Shotokan: Überlieferte Texte – Historische Untersuchungen – Band I

Shotokan: Überlieferte Texte – Historische Untersuchungen – Band I

Buchcover von Band I**

Vor einigen Jahren habe ich, als armer Student, mal einen Kommentar unter einem Facebook-Beitrag auf einer Karate-Seite verfasst, dabei erwähnte ich (ohne irgendwelcher Absichten), dass ich mir die meiste dieser Literatur nicht leisten kann.

Es ist nicht so als wäre diese Literatur das Geld nicht wert, das ist sie allemal, aber ich musste damals selbst beim Essen sparen und Geld durch Blutspenden sowie andere Experimente (Elektroden am Kopf etc.) der Uni-Göttingen verdienen. Times were tough.

Da erhielt ich plötzlich eine liebevolle Nachricht mit einer Ankündigung und bald darauf eine Sendung von einem mitfühlenden Leser mit dem ersten Band aus Henning Wittwers Shōtōkan*-Serie. Dafür hatte ich ihm in einem Instagram-Beitrag gedankt und bin heute noch dankbar, denn dieses Buch ist ein wahrer Schatz! Es hat nicht nur wertvolle Informationen für diesen Blog geliefert, sondern mich auch durch meine Bachelorarbeit gebracht (neben anderen tollen Werken, die ich noch empfehlen werde).

 

Warum ist es besonders?

Der Autor, Henning Wittwer, erfindet das Rad nicht neu. Er nimmt alte Text, in ihrem Original, und übersetzt sie ins Deutsche. „Toll, haben wir davon nicht genug? Funakoshis Karate-do – mein WEG z. B. wie auch viele andere? Also an Übersetzungen alter Texte dürfte uns ja wohl nicht mangeln…“, würde ein ahnungsloser Mensch behaupten.

Doch. Es mangelt. Und dazu kommt, dass viele dieser Übersetzungen unvollständig oder gar verfälscht sind!

Nicht so bei Herrn Wittwer, denn er übersetzt so nah am Original, wie es nur geht, ohne etwas für das moderne Ohr zu verschönern, selber zu interpretieren oder hinzu zu dichten. Dadurch entsteht ein Text, der unverfälscht ist und die Gedanken der damaligen Zeit bestens herüber bringt. Das Lesen fällt einem dabei tatsächlich nicht so einfach, denn die Art und Weise wie Funakoshi, Asato und Co. ihre Schriften formulierten, ist eher archaisch, nicht vergleichbar mit den bearbeiteten, verschönerten und neu-interpretierten Versionen ihrer Texte, die wir aus der üblichen, deutsch-übersetzten Karate-Literatur kennen.

Und so schwer lesbar sind sie nun auch nicht, nur gewöhnungsbedürftig. Die übersetzten Texte wirken lediglich etwas trockener, denn hierbei handelt es sich nicht um typische Unterhaltungsliteratur à la „Moving Zen“ (hatte ich früher geliebt!), sondern um wertvolles, wissenschaftliches Recherche-Werk.

Wie gesagt: Ohne dieses Buches wäre meine Bachelor-Arbeit nicht das, was sie geworden ist (und ich habe eine gute Note darauf bekommen).

Also gleich vorab: Wenn du dich nur unterhalten oder zum Training motivieren lassen willst, dann ist dieses Buch nichts für dich.

Klingt nicht so gut für einen Buchtipp, oder? Aber versteht mich bitte: Es gibt Unterhaltung und es gibt seriöse Arbeit. Meistens ist seriöse Arbeit wichtig, um später besser aufgestellt zu sein. Das zählt in allen Bereichen. Wenn man im Karate nicht an der Nase herum geführt werden möchte, muss man Zeit und Arbeit investieren, nicht nur in das Training, sondern auch in die Bildung und für diese ist Wittwers Shōtōkan-Reihe unabdingbar.

 

Aufbau

Der gesamte Inhalt des Buches wird in folgende Abschnitte eingeteilt:

  • Vorwort
  • Teil 1
  • Teil 2
  • Anhänge, Namensregister, Bibliographie und Abbildungsnachweise

Schon alleine der letzte Punkt zeigt, dass es wie eine wissenschaftliche Arbeit aufgebaut ist, denn diese Inhalte sind da immer sehr wichtig.

Der erste Teil besteht aus einzelnen Textübersetzungen sowie den Anmerkungen des Autors dazu. Dabei handelt es sich um Erläuterungen alter Meister, wie z. B. Matsumura Sokon, Asato Ankō, Itosu Ankō, Funakoshi Gichin usw., zu den unterschiedlichen Themenbereichen des Karate. So lautet ein Kapitel: „Über das Karate-Fieber in der kaiserlichen Hauptstadt“, was ein sozialwissenschaftlich interessantes Thema sein könnte, aber sicherlich nicht unwichtig für den normalen Karateka ist. Dagegen findet man auch das Kapitel „die vom alten Meister, Meister Shōtō, hinterlassenen Unterweisungen“, welche wiederum besonders interessant für die Shotokan- und Shotokai-Übenden spannend sein könnte, denn der Text wurde von Egami Shigeru, einem direkten Schüler Funakoshis, verfasst.

Insgesamt sind es 11 Texte auf 74 Seiten.

Der zweite Teil besteht aus vier Kapiteln, die in zahlreiche Unterkapitel eingeteilt werden und deutlich tiefer in die spezielle Geschichte der Kampfkünste eintauchen. Dabei handelt es sich nicht um 1:1 Übersetzungen, sondern um Recherchen und Erläuterungen des Autors anhand von historischen Daten und weiteren Übersetzungen.

Die Hauptkapitel lauten folgend:

  • General Ch’i und die Ursprünge der Kata Channan
  • Jigen-Ryū und sein Einfluß auf das Karate-Dō
  • Die Kata im Shōtōkan-Ryu
    • Dabei handelt es sich um wesentlich mehr als eine einfache Auflistung der heutigen Kata und ihrer Erklärung, sondern um viel, viel mehr, so lautet ein Kapitel z. B. „Shuyō-Gata und Fuzoku-Gata“, was für die meisten Praktizierenden gar keine Begriffe sein dürften, welche sie aber mithilfe dieses Buches lernen könnten (Spoiler: Es sind Einteilungen der Kata).
  • Das Karate aus dem Shōtōkan
    • Eine Ausführliche Beschreibung der Entwicklung von Anfang an (und zwar wirklich vom Shotokan, nicht von Karate allgemein), bis zur heutigen Zeit auf 31 Seiten.

Insgesamt füllt dieser Teil 107 Seiten.

Dazu muss gesagt werden, dass dieses Buch, obwohl es zahlreiche Abbildungen enthält, sich nicht damit schmückt, wie so manch andere Unterhaltungsliteratur, sondern diese zielgerichtet zur Veranschaulichung nutzt. Auch gibt es nur selten größere Leerstellen, ganz ohne Text. Diese gibt es nur am Kapitelende, wo es Sinn macht. Ich habe schon einige Bücher gelesen, wo mit leerem Platz nicht gespart wurde, um den Eindruck eines dicken Buches zu erwecken. Das ist hier nicht der Fall. Das erste Band von Shōtōkan ist ein Buch von durchschnittlicher Dicke (2,1 cm), doch weil die Schrift relativ klein ist (und die mehrere Seiten füllenden Anmerkungen sind in noch kleinerer Schrift gedruckt), gibt es genug zu lesen.

Ich schreibe das, um zu betonen wie seriös der Autor an das Schreiben dieses Werkes heran gegangen ist. Manch einen dürfte so etwas abschrecken, aber dann hätte dieser Mensch vielleicht auch keinen Nutzen von so einem Buch. Es ist eine Gewöhnungssache und nachdem ich schon so viele wissenschaftliche Texte gelesen habe, ist dieses Buch nicht nur eine Goldgrube an Information, sondern auch unterhaltsamer als man es von wissenschaftlichen Arbeiten kennt.

 

Fehlübersetzungen?

Ich habe dieses Buch als wertvolle Quelle für meine Bachelorarbeit genutzt, teilweise zur vertrauenswürdigen Wiedergabe der Geschichte Shotokans, welche auf den Seiten 153-184 detailliert beschrieben wird, als auch als gute Übersetzung von Primärquellen im Rest des Buches.

Wie gesagt, es ist ein Band von mehreren (z. Z. sind es drei + weitere Werke), vom gleichen Autor, der auch einen Blog führt. Die Qualität seiner Arbeit lässt sich überall nachverfolgen, daher wäre es wohl nicht vom Nachteil als Beispiel einen seiner Artikel zu nutzen, obwohl dieser nicht Teil des Buches ist.

Dabei handelt es sich um Funakoshis berühmten Bericht über sein Karatetraining nachts, weil das Training angeblich von der Regierung verboten wurde. Dies ist ein Mythos, den ich in diesem Artikel beschreibe und dazu nutzte ich natürlich Henning Wittwers Artikel zu dem Thema.

Ich führe dies als Beispiel auf, um nochmal aufzuzeigen wie wichtig es ist alte Texte exakt und aus der Originalsprache (!) zu übersetzen, denn Funakoshis Biografie, in der dieses Thema erwähnt wird, wurde zuerst ins Englische und daraus dann ins Deutsche übersetzt, was viel Raum für Fehler und Deutungen zulässt. Herr Wittwer übersetzt direkt aus dem Japanischen ins Deutsche. Hier der Vergleich beider Textteile, zitiert aus dem o. g. Artikel:

  • Japanisch – Englisch – Deutsch:
    • „In jener Zeit war die Ausübung des Karate durch die Regierung verboten, und die Treffen mußten deshalb geheimgehalten werden.“

 

  • Japanisch – Deutsch:

„In jener Zeit konnte man Karate nicht in der Öffentlichkeit [Ōyake] lernen.“

Hierbei wurde „Öffentlichkeit“ fälschlicherweise mit „Regierung“ übersetzt und daraus folgte der angebliche Karateverbot, dabei sah die Realität ganz anders aus.

 

Fazit

Wie ich schon sagte, ist es nicht das einzige historisch relevante Buch in meiner kleinen Bibliothek, jedoch eins der wichtigsten und ich werte es höher als englischsprachige Werke einiger Schwergewichte, deren Namen jeder Karateka kennt.

Ich kann es jedem empfehlen. Lasst euch nicht vom wissenschaftlichen Stil abschrecken – im Gegenteil – freut euch darüber! Der Autor wirft nicht mit ach-so-klugen Worten herum, um seine Intelligenz zu demonstrieren, nein, er schreibt einfach nur Fakten auf und wenn er selber zu Wort kommt, ist es mehr als gut lesbar und verständlich.

 



* Wenn ich den Buchtitel nenne oder aus dem Buch zitiere, dann verwende ich die korrekte Schreibweise mit den Chōonpu (Langtonzeichen), ansonsten verzichte ich darauf der Einfachheit halber. Ich entschuldige mich für diese Inkonstanz.

** Die Verwendung des Buchcovers wurde mir freundlicherweise vom Autor genehmigt.