Wer ist Anko Itosu??

In diesem Artikel möchte ich zusammenfassen, was für den heutigen Stand (Januar, 2021) über die Fotos von Anko Itosu bekannt ist und gleichzeitig versuchen die Ehre eines Forschers wiederherzustellen.

Für erfahrene Budo-Historiker, die sich auf englischsprachigen Seiten herumtreiben, werden es wahrscheinlich keine Neuigkeiten sein. Dieser Blog war jedoch noch nie für Experten und Hobby-Historiker gedacht, sondern für die normalen Budoka, die hin und wieder mal ein Geschichtsbuch in die Hand nehmen oder ihr Wissen über die Geschichte ausschließlich von ihren Senseis haben. Ich versuche nur die gröbsten Fehler zu korrigieren und Mythen aufzulösen, die in deutschen Dojos ihr Unwesen treiben.

Abgesehen davon bin ich bei weitem nicht der erste, der einen Artikel zu diesem Thema verfasst und bediene mich hier der Informationen aus anderen Quellen auf die ich am Ende verweise. Und obwohl ich nicht der erste bin, stellte ich nach einer schnellen Recherche fest, dass ich womöglich der erste bin, der in einem Blog etwas auf deutsch dazu schreibt, also kann ich vielleicht ein wenig zum Umdenken im deutschsprachigen Raum beitragen.

 

Wer war Anko Itosu?

Das dürfte den meisten bekannt sein und ist schnell zu beantworten. Anko(h) Itosu, mit japanischer Schreibweise auch als Yasutsune Itosu bekannt, war ein okinawanischer Karate-Meister. Er war einer der Lehrer, jedoch nicht der hauptsächliche Lehrer, von Gichin Funakoshi. Er war einer der größten Faktoren für die Einführung des Karateunterrichts an der, zu der Zeit einzigen, örtlichen Mittelschule (im Jahre 1905). Für diesen Zweck veränderte er das Karate so, dass es „entschärft“ wurde, also keine zu gefährlichen Techniken mehr enthielt. Er machte das Karate sehr bewusst zu einem Fitnesssport. Er veränderte viele der bestehenden Kata und erfand mehrere eigene, darunter die fünf Pinan/Heian-Kata.

Über Itosu gibt es viele Anekdoten, vor allem in Büchern wie Tales of Okinawa’s Great Masters (Nagamine, 2000: S. 45-59), jedoch gar keine Fotos, von den man mit einer 100%-igen Sicherheit ausgehen könnte, dass es Itosu ist.

 

„Das erste Foto von Itosu“

Itosus Portrait*

Bevor es Fotos gab, wurden Portraits gezeichnet. So gibt es auch von Itosu zwei Portraits, wobei mindestens eins davon auf Nagamine Shoshin’s Anfrage von einem professionellen Illustrator gezeichnet wurde und in seinem Buch verwendet wird (Abb. 1).

Am 24. Februar 2006 berichtete die Okinawa Times, dass der Karate-Historiker Kinjo Hiroshi ein Foto von Anko Itosu in seiner Sammlung entdeckte (siehe das Beitragsbild oben). Um genauer zu sein war es Kadekaru Toru, ein Experte für die Analyse alter Dokumente, der den Mann als Itosu identifizierte. Dieses Foto übergab Hiroshi dann an die Bibliothek der Präfektur (Hiroshi 2006). An dieser Stelle sei schon mal anzumerken, dass Kinjo Hiroshi nicht der Hauptverantwortliche für das Missverständnis ist. Für ihn war es lediglich eine Ehre dieses Foto spendieren zu dürfen.

Wie dem auch sei, soll dies für eine lange Zeit das erste bekannte Foto von Itosu sein und die Portraitzeichnungen, die ihn angeblich darstellen sollen, endlich ersetzen. Überraschend wenigen Menschen fiel auf, dass der Mann auf den Portraitzeichnungen dem Mann auf dem Foto absolut gar nicht ähnelte. Es hatte weder eine Glatze, noch einen ausgeprägten Schnurrbart, sondern eher volles, wenn auch kurzes, Haar und einen mittellangen Bart.

Seither nutzte fast jeder dieses Foto als unbestreitbare Quelle für Itosus Aussehen. Nicht nur in Blogs und Magazinen, sondern auch in Büchern und sogar auf Buchumschlägen wurde dieses Foto verwendet. Auch Patrick McCarthy verwendete dieses Foto in seiner 2008 Ausgabe des Bubishi.

Selbst Forscher, die sogar solche Fehler machen, bedienen sich der wissenschaftlichen Methode. Bei dieser Methode ist eine Hypothese (eine Annahme) so lange möglich, bis ihr mit Fakten widersprochen wird. Es dauerte 13 Jahre, bis es soweit war.

 

Weitere Fotos und neuste Erkenntnisse

2017 wurde in den Archiven von Naha ein weiteres Foto mit der gleichen Person entdeckt, die auf dem 2006 veröffentlichten Foto zu sehen ist. Dieses Foto machte schnell Schlagzeilen als das „zweite Foto von Itosu“:

Abb. 2: Mit orange umkreist steht ein Mann, der dem Mann vom ersten Foto sehr ähnelt. Das Foto befindet sich im Besitz vom Naha City Museum of History.

Es dauerte nicht lange bis auch das dritte Foto von Thomas Feldmann (vom HOPLOblog) gefunden war:

Abb. 3: Das dritte Foto, auf dem der gleiche Mann zu sehen ist. Auch dieses Foto ist Eigentum vom Naha City Museum of History.

Diese Fotos spielen allerdings keine große Rolle mehr, da sie lediglich ein und die selbe Person in einem ungefähr gleichen Zeitabschnitt zeigen, wobei letzteres nochmal genauer untersucht werden sollte. Auf keinem der Fotos gibt es, soweit ich weiß, eine Auflistung der Namen der abgebildeten Personen.

Abb. 4: Auch hier findet sich der Mann wieder. Das Foto befindet sich im Besitz von der Library of the University of the Ryūkyūs.

2019 tauchten endlich zwei weitere Fotos auf, die für diesen Artikel sowie für die weitere Forschung besonders relevant sind. Beide wurden von dem Forscher Akira Nakamura untersucht. Eins davon (Abb. 4) gehört zu der Shihan Gakkō (eine Art College für Lehrer), das andere Foto (Abb. 6, die komplette Version besitze ich leider nicht) wurde von der Nakagusuku-Familie an die Bibliothek der Präfektur Kochi übergeben. Zu dem ersten Foto gehört – und das ist hierbei endlich der Schlüssel zur Auflösung des Rätsels – eine Auflistung der Namen der Teilnehmer auf dem Foto (Abb. 5). Einer der Teilnehmer (orange markiert) scheint unverwechselbar die gleiche Person zu sein, wie auf den alten Fotos von „Anko Itosu“, wird hier jedoch als „Miyake Sensei“ gekennzeichnet.

Abb. 5: Eine Auflistung der Namen der Teilnehmer. Das Foto befindet sich im Besitz von der Library of the University of the Ryūkyūs.

Später wurde dieser als Sango Miyake identifiziert, der zu dieser Zeit als Lehrer für Gekken (eine ursprüngliche Form der Kendo) tätig war.

Am 12. September 2019 hielt Akira Nakamura einen Vortrag zum Thema der wahren Identifizierung von Anko Itosu ab. Wenn die bisher geglaubte Person nicht Itosu ist, haben wir dann überhaupt ein Foto von ihm? Laut seiner Untersuchungen müsste auf dem neusten Foto (Abb. 6), auf dem übrigens auch Miyake abgebildet ist, zumindest von der Zeitspanne her, auch Itosu abgebildet sein, selbst wenn er nicht namentlich verzeichnet ist.

Abb. 6: Der ältere Mann ist möglicherweise der echte Itosu. Quelle. Autor des Bildausschnittes ist Andreas Quast, Bildverbesserung ist von mir. Lizenz: CC BY-SA 4.0

Der einzige Mann, der vom Alter her und zu Kotaro Kamimuras Beschreibung „ein 80 Jahre alter Mann, der einen Gehstock benutzte“ [übersetzt und paraphrasiert von mir] passt, findet man auf der rechten Seite in der zweiten Reihe von unten.

Dies könnte der wahre Anko Itosu sein. Doch selbst wenn er das nicht ist, kann man heute eins mit Sicherheit sagen:

 

Der Mann auf dem bisher bekanntesten Foto ist definitiv nicht Anko Itosu, sondern Sango Miyake!

 

Eigene Gedanken

Wie ich bereits geschrieben habe, lebt die Wissenschaft davon (oder sollte es zumindest), dass Dinge neu entdeckt und Statistiken neu ausgewertet werden. Geschieht dies ohne Voreingenommenheit (Bias), dann kann auf die neuen Daten vertraut werden. Dies führt unweigerlich dazu, dass alte Erkenntnisse, Theorien, Überzeugungen und sogar ganze Felder der Wissenschaften überschrieben werden und sich neu ausrichten müssen.

Nur weil das Wort Atom vom altgriechischen ἄτομος, also  „unteilbar“, stammte, weil das früher so angenommen wurde, heißt es nicht, dass dessen ersten Entdecker/Benenner nicht gewürdigt werden sollten. Auch Sigmund Freud war durch seine Zeit sehr stark beeinflusst und nicht alle seine Theorien finden heute noch auf Zustimmung. Dennoch schuf er großes und dank ihm durften weitere Wissenschaftler auf seinen Theorien aufbauen und diese entwickeln.

Warum sollte also Kinjo Hiroshi dafür verunglimpft werden, dass er dachte sein Foto sei das von Anko Itosu? Wurde es nicht von dem Experten Kadekaru Toru bestätigt? Und ist Herr Toru dann Schuldig? Wenn Buchautoren dieses Bild verwendeten und sich damit bis zum Gehtnichtmehr vermarkteten, dürfen sie dann überhaupt noch Hiroshi die Schuld geben? Nein, die Verantwortung tragen ganz alleine sie. Wir leben in einer Fingerzeig-Gesellschaft und alle suchen nach dem Schuldigen, aber meistens gibt es keinen. Meistens sind die Dinge einfach so wie sie sind und müssen akzeptiert werden. Die besseren Autoren und Blogbetreiber behaupteten nie, dass es sich um das Foto von Itosu handelt. Sie schrieben stets „angenommen“, „vermutet“ oder „bisher bekannt“.

Und was fällt es Wissenschaftlern und Forschern überhaupt ein, über Kinjo Hiroshi abwertend zu reden? Kaum zu glauben, aber genau das scheint derzeit auf Okinawa zu passieren. Es ist als hätten sie eine derart große Angst vor Fehlern, dass sie vergaßen was Respekt bedeutet.

Kinjo Hiroshi darf also nicht verantwortlich gemacht werden.

Wer aber (freundlich) getadelt werden darf, sind die Leute, die auch heute noch, trotz der neuen Erkenntnisse, das alte Foto verwenden und behaupten es sei Itosu (manche meinen sogar es sei Hanashiro Chomo, was genauso wenig stimmt).

Erst vorgestern (am 02.01.2021) fragte ein Nutzer in einer Karategruppe auf Facebook wann das Foto auf Wikipedia endlich aktualisiert wird, was Andreas Quast dazu veranlasste diese Änderung vorzunehmen und mich dazu inspirierte diesen Artikel zu schreiben.

Ich hoffe, dass diese News nun alle deutschsprachigen Dojos, alle Autoren und Blogger erreichen und keiner mehr auf die Idee kommt das Foto von Sango Miyake zu verwenden. Lasst uns gemeinsam die Mythen und Fehler nach und nach aus unserem Karate verbannen!

 


Quellen:

  1. Über das dritte Foto von Miyake Sango.
  2. Über die Identifizierung von Miyake Sango.
  3. Weitere Quelle zu der Identifizierung.
  4. Über Nakamuras Vortrag über die mögliche Identifizierung des wahren Itosu.
  5. Artikel mit einer vollständigeren Version des neusten Fotos.
  6. Noch ein Artikel mit einer noch vollständigeren Version des neuen Fotos, auf dem auch Miyake zu sehen ist.

Sollte auf die Quellen nicht direkt verwiesen sein, dann findest du sie unter Meine Quellen.

Nachtrag: Vielen Dank an Thomas Feldmann und Andreas Quast für die nötigen Korrekturen einiger Fehler!



*Die Verwendung dieses Bildes wurde freundlicherweise vom Urheber genehmigt.

Danke, dass du den Artikel zu Ende gelesen hast!

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3 Kommentare, sei der nächste!

  1. Sehr umfangreiche und erhellend Informationen.
    ich habe mich beim Lesen gefragt, was wohl die Personen, die es betrifft, sagen würden ,wenn Sie diesen Artikel lesen könnten. Dennoch ist es wichtig, das aufzuklären.
    Mit sportlichen Grüßen,
    Enzo Buß
    3. Dan Shotokan Aikidoübender

    1. Hallo Enzo,
      danke für deinen Kommentar! Meinst du mit der betroffenen Person Kinjo Hiroshi? Er ist bereits 2013 verstorben. Einer seiner Schüler hatte mir erzählt wie manche Forscher heute über Hiroshi’s Foto von 2006 und die fehlerhafte Annahme denken und brachte mich auf die Idee das dann hier im Artikel so zu schreiben. Ansonsten denke ich nicht, dass ich irgendjemanden persönlich angreife. Wer sich dann trotzdem angegriffen fühlt, sollte in sich hinein hören. 😉

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