Erzeugt Hikite wirklich mehr Kraft?

Neulich schrieb jemand in einem Kommentar auf meiner Seite und fragte ironisch, ob ich tatsächlich meine der Hikite wäre unnötig.

Darüber musste ich erstmal nachdenken und bin zu einem klaren Fazit gekommen, doch zuerst würde ich gerne über die mir bekannten, angenommenen Funktionen des Hikite berichten.

 

Angriff mit dem Ellenbogen nach hinten

Jep, das wurde mir ernsthaft zu Beginn meiner Karatezeit erzählt. Wer diesen Blog nicht zum ersten Mal liest, kann sich denken, was ich von dieser Hypothese halte…

 

Verstärkung der schlagenden Hand

NÖP. Da passiert physiologisch nichts derartiges. Ist alles eine Trainingssache. Du kannst auch ohne Hikite einen ordentlichen Wumms hinbekommen, wenn du die Technik entsprechend übst. Wie erklärst du dir sonst, dass Boxer oftmals so viel besser beim Schlagen sind als so viele Karateka?

Ich glaube, diese Vorstellung von einem stärkeren Schlag durch den Einsatz des Hikite kommt aus Mangas, Animes oder anderen, älteren und fantastischen Kampfkunst-Unterhaltungsmedien (daher das Beitragsbild). Anders kann ich es mir wirklich nicht erklären.

Du kannst deinen Körper auch ohne Hikite so drehen, dass du mehr Kraft im Angriff generierst. Das funktioniert tatsächlich, denn die Kraft kommt aus dem Boden, aus den Beinen, aus der Körperdrehung (Spirale) und der Verbindung des Ober- und Unterkörpers durch den Rücken. Dafür muss man aber die passive Faust nicht an der Hüfte haben. Eigentlich sollte in einem Realfall nichts „passiv“ sein.

 

Spannungsausgleich im Rücken

Mehr Sinn scheint der Ausgleich der Spannung im Rücken zu machen.

Ein ganz einfaches Experiment dazu: Strecke beide Arme aus, sodass die Fäuste auf Brusthöhe und nebeneinander sind. Nehmen wir nun an, dass deine linke Faust die schlagende sein soll. Bewege nun deine linke Schulter etwas weiter nach vorne und die rechte nach hinten: So gewinnst du ca. 20-30 cm an Distanz zum Ziel. Bewege nun deine rechte Hand in die Hikiteposition und zu der Distanz kommen noch ca. 15-25 cm dazu. Klingt plausibel?

Das Problem mit dieser Annahme ist, dass wenn die rechte Faust am Kinn wie beim Boxer oder auf Brusthöhe ist, du links die gleiche Distanz dazu gewinnst. Also stellt bei dieser Annahme, aus praktischer Sicht, der Zug zur Hüfte einen längeren Weg dar, kostet mehr Zeit, ist aber nicht effektiver. Effizienz = 0.

 

Griff und Zug

Wenn du ein Praxis-orientiertes Karate mit SV-Elementen übst, also auch Griffe, Hebel und Würfe einbaust, dann kennst du sicherlich die Funktion des Hikite als greifende und ziehende Hand. Du greifst den Gegner am Arm oder an der Kleidung, ziehst diese an die Hüfte, drehst sie im Optimalfall, destabilisierst dadurch seine Struktur und schlägst mit der anderen Faust in das Gesicht oder einen anderen Schwachpunkt, welche sich durch den Zug nun auch noch näher befinden. Hikite soll also eine Übung für den Griff- und Zugreflex sein.

Diese Hypothese machte für mich am meisten Sinn und ich habe sie sehr lange vertreten. Doch neuerdings habe ich meine Haltung diesbezüglich geändert.

Man muss verstehen, dass der Körper das lernt, was er am häufigsten wiederholt. Aus diesem Grund bin ich gegen zahlreiches Bahnenlaufen oder 1000 Tsuki auf der Stelle, denn dabei ist der Fokus selten auf einer guten Ausführung sondern auf der Menge, also Quantität über Qualität. Von 1000 Tsukis macht man vielleicht 100 gut und 900 schlecht, vor allem zum Ende hin, wenn die Erschöpfung eintritt. In diesem Fall lernt der Körper also eher die schlampige Technik, weil die nötige Achtsamkeit und Reflexion fehlt.

Was macht man beim Hikite? Man zieht nur den Arm nach hinten. Selbst wenn es einen Griff und Zug simulieren soll, dann gibt es keine Masse des Gegners, keinen Widerstand, keine Gleichgewichtsverlagerung, gar keine Herausforderung. All das sind Dinge, die man zu fühlen bekommt und man muss entsprechend die Anwendung der Technik verändern, wenn man sie real mit einem Partner übt. Wenn man dann gut genug ist, dann übt man mit einem zunehmend widerstehenden Partner, als Handicap. So lernt man wirklich jemanden zu greifen und zu ziehen. Luftgriffe sind jedoch genauso sinn- und wirkungslos wie Luftschläge und Lufttritte.

 

Nutzung des Bo

Wer im Kobudo unterwegs ist oder einfach nur gerne mit dem langen Kampfholz (Bo, Jo, Bokken, Eku etc.) herumwedelt, weiß dass es Bewegungen gibt, bei den ausgeholt werden sollte. Eine Ausholbewegung ähnelt der der Angriffsstellung, bei der die hintere Hand in der Hikite-Position ist. Aber dies ist nur ein kurzer Zeitabschnitt, bevor beide Hände nach vorne schnellen. Der dauerhafte Hikite an der Hüfte und ohne Stock hat nichts damit zu tun.

 

Fazit

Hikite scheint das Überbleibsel einer veralteten Trainingsmethode zu sein, die heutzutage, mit all den Lernvideos, den zahlreichen Kampfsport- und Kampfkunstarten und der besseren Möglichkeit zu trainieren, obsolet geworden ist. Wie Bruce Lee sagen würde: „Classical mess“ („klassische Unordnung“).

Halte die Hand am Kopf (Schläfe oder Kinn) oder an der Brust, denn es gibt auch sinnvolle Techniken von der Brust aus, als Schutz sowie für einen kürzeren Weg bei einer Gegenreaktion. Übe Griffe ordentlich, aber bilde dir nicht ein, dass Hikite alleine dir einen guten Griff, einen tollen Ellenbogenschlag (gegen all die unzähligen Gegner, die von hinten ankommen und so nah kommen, dass du sie perfekt damit triffst) oder was auch immer verschafft. Solche Fertigkeiten kommen nicht per Zauberhand, sondern müssen gezielt und in einem realistischen Kontext trainiert werden.

Die einzige sinnvolle Anwendung des Hikite, aus meiner Sicht, ist beim Fotografieren von Partnerübungen, bei den die Hand aus dem Weg geschafft werden sollte, damit man überhaupt etwas sieht. Denk mal darüber nach. 😉

 

War ich zu voreilig mit meinem Urteil? Habe ich etwas verpasst? Sicherlich gibt es noch andere Erklärungen für den Hikite, die ich jedoch nicht kenne. Falls du welche kennst, seien es halbwegs sinnvolle Erklärungen oder aber auch totaler Quatsch, dann beschreibe sie bitte in den Kommentaren. Würde mich interessieren!

 



Danke für das Lesen bis zum Ende! Ich hoffe, dieser Artikel hat dir gefallen. Ich schreibe diese Sachen aus Spaß, aber weil ich auch etwas in der tristen deutschen Karatewelt bewegen möchte. Geld mache ich damit nicht. Tatsächlich kostet mich dieser Blog über die Jahre ordentlich… Wenn du mich unterstützen möchtest, dann kannst du das gerne ab 1 € pro Monat bei Patreon machen. Vielen Dank!

Danke, dass du den Artikel zu Ende gelesen hast!

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Ein Kommentar, sei der nächste!

  1. Danke dass du solche Dinge ansprichst.

    Ich brauche den Hikite als Ausgleich. Die Faust nach vorne wird beschleunigt durch das zurückziehen.

    LG Florian

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