Eine Sache, die ich glücklicherweise recht früh verstanden habe, ist, dass man im Karate immer und immer wieder umlernen müsste, um sich weiter zu entwickeln. Und damit meine ich gar nicht, dass man etwas zuerst falsch lernt und es erst später richtig macht. Das sollte auf keinen Fall geschehen. Ich meine, dass man richtig lernt, aber mit der Zeit feststellt, dass das Gelernte womöglich nicht mehr unbedingt mit der eigenen Entwicklung kongruent verläuft, also den Zweck nicht mehr erfüllt. Was im ersten Jahr galt (Stände, Fausthaltungen), gilt nach sieben Jahren nicht mehr.
INHALTSVERZEICHNIS
Warum das Umlernen gelernt werden sollte
Es ist nun mal so, dass man einen Anfänger damit überfordert, wenn man ihm von Anfang an etwas über die Feinheiten der Gewichtsverlagerung, von Wellen und Impulsen erzählt. Bevor man lernt zu laufen, sollte erstmal das Gehen gelernt werden. Doch die Basis, auf der später alles aufbauen wird, sollte nicht zu realitätsfremd sein. Leider ist aber gerade das in den meisten Fällen der Fall. Durch die Institutionalisierung, Politisierung und Reduktion des Karate hat sich zu vieles eingeschlichen, was gar nichts mehr mit der eigentlichen Lehre (also derjenigen, die funktioniert und Sinn macht – und davon gibt es nicht nur eine) zu tun hat. Wirklich gute Lehrer sind wirklich schwer zu finden und aus diesem Grund ist man als neugieriger Karateka, möglicherweise nach Jahren des gewohnten Trainings, gezwungen einige Dinge komplett umzulernen. Doch auch darin sehe ich etwas Gutes, denn das lehrt einen flexibel zu sein.*
Ich fing in der JKA-Tradition (Shotokan) an, erweiterte diese Lehre nach ca. einem Jahr mit Asai-ryu, nur um auch dies nach weiteren zwei Jahren komplett aufzugeben. Dann machte ich Ausflüge in das okinawanische Goju-ryu (inkl. Hojo Undo), Shorin-ryu, Kobudo, Movement (nach Ido Portal, Akira Hino etc.) uvm. Viele Dinge mussten umgelernt werden, um sich meinem Körper, meinen Zielen und meiner Persönlichkeit anzupassen.
Vielleicht hast du ähnliche Erfahrungen gemacht, vielleicht werden für dich einige dieser Punkte eine Neuheit sein. Vielleicht kann ich dir einen Hinweis geben, wo es noch Verbesserungsmöglichkeiten gibt, oder dir zeigen, dass du auf deinem Weg nicht alleine bist. Hier sind 11 Dinge, die ich auf meinem Karate-Weg umlernen musste:
1: Die Faust
Anfangs hat man mir erklärt wie man eine Faust bildet: Die Finger, vom kleinen Finger anfangend bis zum Zeigefinger, in die Handinnenfläche falten und den Daumen über den Zeige- und Mittelfinger legen, um die Faust zu stabilisieren. Der Klassiker. Allerdings führt diese Haltung unmittelbar zu Verspannungen in der Hand, dem Unterarm und folglich allen damit verbundenen Muskeln. Entspannung ist jedoch zu empfehlen, wenn man noch etwas von seiner Ausdauer haben und Energie effizienter transportieren möchte. Also musste ich lernen die Faust nicht komplett zu falten, wobei die Fingerspitzen nur leicht die Handinnenfläche berühren. Viel mehr muss auch wirklich nicht sein, denn die Faust ist auch so stabil genug und tut dem Gegner beim Aufprall mit dem Gesicht auch sehr weh.
2: Das Vorgehen und Auftreten
Halbmondschritte sind schwer abzugewöhnen. Sehr schwer. Ich habe heute noch Probleme damit. Und warum hatte man mir das überhaupt so beigebracht?! Halbmondschritte machen gar keinen Sinn! Die Bewegung dauert länger, ist indirekter und auch der Körperschwerpunkt schwabbelt dabei hin und her. Viel effektiver, einfacher und gewohnter sind gerade Schritte nach vorne. Ob man dabei mit dem Fußballen, oder der Ferse auftritt, hängt von der Kampfsituation und der Absicht ab. Klar, das sieht dann nicht mehr so wie in den Samurai- und Ninja-Filmen aus, aber willst du kämpfen lernen, oder schauspielern?
3: Timing
Auch hier hieß es für mich bis vor kurzem, dass die Technik gleichzeitig mit dem Auftreten ausgeführt wird. Aber warum? Sämtliche Erklärungen wie „besseres Kime“ und „besser für die Partnerübung“ halten einer kritischen Hinterfragung mit Realitätsbezug nicht stand. Man kann einen Faustschlag bereits vor dem Auftreten, oder auch mit einer Verzögerung danach ausführen. Probiere es aus! Solange man den Körper dabei richtig einsetzt und den Impuls korrekt weiter gibt, macht es überhaupt keinen Unterschied, ob der Treffer gleichzeitig mit dem Auftreten, oder erst eine Sekunde danach stattfindet.
4: Kiai
Lass den Kiai weg. Braucht kein Mensch. Auch in Kata nicht. Eine Schrei-Therapie ist etwas wertvolles, aber das Karatetraining ist nicht das richtige Setting dafür. Der einzig sinnvolle Einsatz dafür ist, um dem Anfänger beizubringen das Zwerchfell für die Atmung zu benutzen, doch so weit kommen viele gar nicht erst. Die meisten Karateka schreien aus dem Hals, nicht aus dem Bauch, und atmen nur oberflächlich, selbst wenn sie den Kiai im Karate praktizieren. Der richtige Kiai sollte gelernt werden (hat Ähnlichkeit mit einem kurzen Husten) und bevor man damit anfängt, könnte man auch gleich damit anfangen korrekt zu atmen.
5: Hinten abstoßen vs. vorne fallen lassen
Kurz zusammengefasst: Karate-Wettkämpfer stoßen sich hinten ab. Diese Methode ist für das ungeübte Auge weniger auffällig, aber auch sehr von der Explosivkraft der Beine abhängig und kann nur sehr eingeschränkt eingesetzt werden. Eine andere, sparsamere und gelenkschonendere Methode ist das sich nach vorne fallen lassen, indem man sich von der Schwerkraft leiten lässt. Diese Methode kann eingesetzt werden auch wenn man schon älter ist und nicht über viel Kraft in den Beinen verfügt. Meine Logik dahinter ist:
Warum soll ich jetzt etwas lernen, nur weil ich es kann, um es später wieder umlernen zu müssen? Ich mache es lieber gleich richtig und verbessere die Fertigkeit über die Jahre.
Yokoyama nennt diese Methode Tobokuho, den „fallenden Baum“ (Yokoyama: 32). Dieses Fallen lässt sich erreichen, indem man sich nach vorne kippen lässt, ähnlich wie in der ersten Bewegung der Kata Bassai/Passai, um sich dann sanft wieder aufzufangen. Für die Bewegung nach vorne wird also nur ein Minimum an Energie verbraucht und dann etwas mehr, um diese zu stoppen. Im Gegensatz wird beim Abstoßen sowohl für den Anfangsimpuls als auch für das Auffangen Energie benötigt.
Eine andere Variante ist das Nachgeben im Knie, oder das Anheben des stützenden Beines, um einen Fall nach vorne zu erzeugen.
Als Infomaterial empfehle ich Kazumasa Yokoyamas Principles of Karate und Peter Ralstons The Principles of Effortless Power. Die Inhalte dieser Bücher sind zu Beginn recht schwer zu verstehen, doch wenn man sich länger damit beschäftigt, erkennt man immer mehr Parallelen, z.B. zwischen den Lehren von Ralston, Yokoyama, Hino, DK Yoo und sogar nicht-Kampfkünstlern wie Ido Portal!
6: Mobilisierungstraining
Über das sogenannte „Aufwärmtraining“ habe ich erst neulich einen Artikel geschrieben. Check it out!
7: Tritte
Auch über Tritte gibt es bereits einen Artikel. Nochmal kurz zusammen gefasst: Alles, was dir so erzählt wurde, ist viel zu eingeschränkt. Tritte sind viel Komplexer, als gedacht und doch einfacher in der Ausführung als unterrichtet. Folge deinem Körper: Bleibe entspannt, trete stark und nicht zu hoch (außer wenn es dir Spaß macht und nicht zu Verletzungen führt). Und der Spagat wird eh überbewertet.
8: Stände**
Die Ausarbeitung dieses Punktes wurde ganz schön lang, deshalb habe ich beschlossen einen separaten Artikel darüber zu schreiben. Hier werde ich nur kurz anreißen:
- Stände sind nur Momentaufnahmen von fließenden Bewegungen, deswegen sollte man weg von statischen Ständen, hin zu einer kontrollierten Gewichtsverlagerung.
- Zu tiefe Stände und unnatürliche Stände, bei den entgegengesetzte Kräfte innerhalb einer Gelenkstruktur wirken, können sehr schädlich sein und u.a. zu Verspannungen und Arthrosen führen. Ein Beispiel dazu ist der Kiba-Dachi mit den nach außen gedrückten Knien. Dazu habe ich bereits vor Jahren einen langen Artikel geschrieben.
- Stände sollten funktionell sein. Wenn sie durch ihre übertriebene Tiefe eine optimale Kraftübertragung behindern, z.B. durch die Bildung eines Hohlkreuzes im unteren Rücken, sollte man sich höher stellen. Tiefe Körperhaltungen sind aber nicht grundsätzlich schlecht, solange sie natürlich bleiben. In der Bewegungslehre nach Ido Portal und anderen Lehrern werden tiefe Körperhaltungen (je näher an dem Boden, desto besser) propagiert und auch ich mache viele Dinge auf dem Boden, wie z.B. den Lizard Crawl. Jedoch sollte man die Ziele des Primal Movements und die der Kampfkunst, bei all ihren Parallelen, unterscheiden können und diese Disziplinen nicht vermischen, wenn es nicht sinnvoll ist. Das eine ist eine Beweglichkeitslehre, während das andere eine Kampflehre sein sollte.
9: Kime
Selbst auf Okinawa weiß niemand wirklich was Kime bedeutet. Dieser Begriff kursierte viele Jahrzehnte von Schule zu Schule und jeder verstand etwas anderes darunter. Mit dem Aufstieg des versportlichten Shotokan-Version des JKA hat man versucht Kime als das zu definieren, worunter man es heutzutage überwiegend versteht: Völlige, kurzzeitige Verspannung des gesamten Körpers am Ende einer Technik. Aber das ist Unsinn. Verspannung führt selten zu etwas gutem, macht langsam, kann sogar gesundheitliche Schäden verursachen (siehe: Muskelpanzer) und behindert die optimale Energieweitergabe.
Das „Kime“, das viele heute kennen, wurde eigentlich eingeführt, um den Angriff im letzten Moment vor dem Ziel zu stoppen. Das sollte den Wettkampfanforderungen und dem Sundome zugute kommen. Sicherlich keine gute Voraussetzung, wenn man lernen möchte realistisch zu kämpfen, nicht wahr?
Wenn ich jetzt Kime definieren müsste (und bis heute gibt es keine eindeutige Definition), dann würde ich es eher als eine Welle bezeichnen, die vom Ursprung (Boden), durch den ganzen Körper bis hin zum Ziel geht, mit so wenigen Unterbrechungen wie möglich, um eine optimale Energieweitergabe zu gewährleisten. Am Ziel wird die Energie weitestgehend abgegeben, wobei die Faust nach der Energieabgabe wieder zurück gezogen, oder für eine Folgetechnik eingesetzt wird, um Verletzungen zu vermeiden und dem Gegner keine Chance auf einen Konter zu geben. Dieser ganze Prozess, aber vor allem sein Abschluss, ist für mich Kime. Das ist kompliziert, hat viel mit dem Körpergefühl zu tun und muss gründlich und achtsam trainiert werden. Da Verspannung dem Körpergefühl eher im Weg steht und weil viele Übende gar nicht wissen wie ein gutes Kime sich anfühlt, wird das falsche Wissen immer weiter verbreitet.
Grundsätzlich kann gesagt werden: Je entspannter du an die Übung heran gehst, desto höher die Erfolgschancen. Je mehr du deine Muskeln anspannst, um die Illusion von Kraft zu generieren, desto länger wirst du brauchen.
10: Aufrechte Körperhaltung vs. Vorlage
Zu dem scheinbar aufrechten Oberkörper und den Problemen, die dadurch entstehen könnten, habe ich auch einen Artikel geschrieben. Inzwischen neige ich mich vor, wenn es sich richtig anfühlt und die Kraft korrekt transportiert. Bis man soweit ist, muss man aber erstmal ein gewisses Körpergefühl und das Gefühl für den Körperschwerpunkt entwickeln.
11: Blocken vs. abwehren und hebeln
Äh, ja, mein erster „Lehrer“ arbeitet als eine Art Hausmeister, Medientechniker und Installateur für alles mögliche an der Uni. Wann immer es eine große Veranstaltung gibt, ist er für das Tragen und Errichten zuständig. Der Kerl hat Arme aus Stahl und die nutzt er auch entsprechend. Als ich bei ihm Karate (JKA-Style) lernte, musste ich blocken, im klassischen Sinne: Muskel an Knochen. Soto Uke, Uchi Uke, Age Uke, Gedan Barai… der Mann verstand diese Techniken nur als reine Blocktechniken. Während man diese Bewegungsformen tatsächlich zum stumpfen Blocken nutzen könnte (vgl. Mabuni: 81f.), gibt es weitaus mehr Einsatzmöglichkeiten dafür (ebd.). Abgesehen davon, dass eine Abwehrtechnik (ja, ja, wir sollten inzwischen alle wissen, dass uke übersetzt „Aufnahme“ heißt und nicht „Block“) auch als Angriff genutzt werden kann, so kann die selbe Bewegung auch als Hebel angewendet werden, z.B. der Soto Uke als Ellenbogenhebel.
Mit der Zeit ist mir klar geworden, dass wir nicht einzelne Techniken lernen, sondern kampfspezifische Bewegungsmuster, die sich unterschiedlich einsetzen lassen.
Fazit
Die wohl wichtigste Sache habe ich bereits am Anfang erwähnt: Man lernt immer wieder um. Budo verlangt von einem anpassungsfähig zu sein: An die Zeit, an den eigenen Körper, an die Umgebung, an die Laune usw.
In fünf Jahren werde ich vielleicht wieder ganz viele Dinge verändert haben, oder die bestehenden Dinge so weit verbessern, dass sie evtl. anders aussehen, aber vom Prinzip her gleich geblieben sind. Die äußere Form ist sowieso weniger wichtig. Wichtig ist das, was für einen selbst funktioniert und was einem selbst gut tut. Form folgt der Funktion, andersherum sollte es nicht sein.
*ich weigere mich grundsätzlich unangenehme Erlebnisse als nur schlecht zu betrachten. Alles ist eine Lektion und eine Chance stärker zu werden… auch wenn ich manchmal selber mit einem bitteren Lächeln über diesen Gedanken ironisiere.
**Stände könnte man auch als Fußpositionen bezeichnen (vgl. Yokoyama: 58).
Hallo Philipp
wie immer ein guter Aufsatz.
Im Karate muß ich immer umlernen – das würde ich so nicht stehen lassen.
Warum?
Beschäftige ich mich mit dem Shotokan- Karate des DKV oder des DJKB dann gibt es klare Vorgaben und die Grundschule wird sich nicht verändern. Wo ich umlernen muß, das ist
beim sportlichen Wettkampf, bei der Ausführung der Kata`s für den sportlichen Wettkampf.
Da ich mit dem koreanischen Karate oder Taekwon-Do begonnen habe, unsere Schule wurde geschlossen, zum Shotokan -Karate gewechselt bin. Habe ich da nur neue Begriffe lernen müssen, die Techniken da war vieles ähnlich.
Ist auch verständliche, da Tae-Kwon-Do aus dem Shotokan- Karate entstanden ist.
Was im Tae Kwon Do mehr Beachtung findet, sind hohe Beintechniken, Sprungtechniken und natürlich der Bruchtest.
Nicht zu vergessen der Dehnungsteil im Training.
Was mir noch aufgefallen ist, lag vielleicht am Trainer im Shotokan.
Die Grundsätze des Tae Kwon Do waren im Dojang sichtbar angebracht: Höflichkeit, Bescheidenheit, Toleranz,…. das fehlte im Shotokan völlig.
Vor und nach dem Training immer eine kurze Meditation – leider ohne den Hinweis warum
und wie. Was sollte ich beachten, nichts. Nur sitzen und atmen.
Da gab es im Shotokan oft nur ein kurzer Gruß.
Dann habe ich einige Bücher von Werner Lind, BSK gelesen.
Besonders das Buch: Budo -der geistige Weg der Kampfkünste,
das sind Gedanken die sich Werner Lind gemacht hat und da kann er auf keinen Karate-Meister aus Okinawa verweisen.
Ist auch verständlich, da Werner Lind und seine Mitstreiter aus Bücher über Kampfkünste die es in englischer Sprache gibt, wie er schreibt das Wissen für seine Bücher zusammengetragen haben.
Wo ich vieles über das Karate oder Tode aus Okinawa lesen konnte ohne mir gleich ein Buch zu kaufen.
https://karate-nord.de/
Oshiro-Dojo in Hamburg
Wenn ich einen Großmeister im DKV erwähnen muß, dann Wolf-Dieter Wichmann,9. Dan,
Shotokan,
der auf seinen längeren Lehrgängen auf der Wewelsburg neben Karate auch eine Einweisung
in ZEN und Go gibt.
Wo ich etwas im Widerspruch mit Dir bin.
Der Wettkampfmodus einer Kampfsport-Richtung bestimmt mehr das Training als einige es für möglich halten.
Als Beispiel, im Taekwondo der WT – das ist mit Brustpanzer, Kopfschutz – Trefferfläche der Brustpanzer, keine Handtechnik zum Kopf. Da fehlt oft völlig die Deckung.
im DKV jetzt mit Hand- und Fußschutz – einige nennen es Hoppel- Karate –
sieht anders aus als der Wettkampf etwa bei der WAKO im Leichtkontakt, da erkennt man deutlich die Handtechniken kommen aus dem Boxen.
Ich lese immer wieder sehr gerne Deine Aufsätze.
Du machst Dir wirklich viel Mühe.
Danke.
PS: Könnte noch näher auf einige Punkte eingehen aber das wird dann zuviel.
Hallo Gerhard und danke für einen weiteren ausführlichen Kommentar und den Lob! Es freut mich, dass es auch nach Jahren noch Interessierte an meinen Artikeln gibt und hoffe, dass ich in naher Zukunft wieder anfangen werde zu schreiben.
Die von dir empfohlene Webseite ist gut und erwähnt einige Dinge, die allgemein nicht bekannt sein dürften.
Über den Wettkampf habe ich in diesem Artikel jedoch gar nichts geschrieben. Wenn du meine Aussage zum Schluss meinst, dass die Form der Funktion folgt, dann meine ich natürlich ein Karate, das sich weiter entwickelt in Richtung besserer Bewegung und Selbstverteidigung. Das schließt schon mal Wettkämpfe aus, aber auch das Shotokan-Karate des DKV oder DJKB. Letztere basieren fast ausschließlich auf Wettkampf, auch wenn das vielen nicht bekannt ist. Sie entwickeln sich heutzutage gerade wegen diesen festen Vorgaben kein bisschen weiter (also rückwärts zu den Prä-Itosu-Wurzeln), auch wenn sie es dringend nötig hätten. Den Wettkampf betrachte ich gar nicht als Karate und bin dafür, dass es einen anderen Namen erhält. Bei Shotokan weiß zumindest jeder, was größtenteils zu erwarten ist, ebenso wie beim Goju-ryu, darum sollte auch das Zappel-Geschreie eines Wettkampf-„Karate“ einen anderen Namen haben.
Nach Wichmann hat mein erster Lehrer gelehrt und dessen Bücher als Lektüre und einzige Informationsquelle für uns Studenten verwendet. Was besseres gab es auch nicht in der Sportbibliothek. Ich bin also ziemlich gut vertraut mit Wichmanns Werken und aus genau dessen Grund fehlen seine Bücher komplett in meiner eigenen Bibliothek. Ich habe den Mann zwar nie direkt erlebt, kann also nicht sagen, ob er sich seit der Verfassung dieser Bücher weiter entwickelt hat, seine Videos überzeugen mich aber gar nicht. Als Großmeister würde ich ihn jedenfalls nicht bezeichnen, ganz egal welchen Dan-Grad er trägt.
Tut mir Leid, dass meine Antwort etwas hart klingen könnte. Ich meine es wirklich nicht unfreundlich, denn ich schätze jeden Leser und alle, die sich etwas mehr Gedanken machen. Du hast dir nun öfters die Zeit genommen, nicht nur zum Lesen, sondern auch zum Verfassen von ausführlichen und guten Kommentaren. Aber auch wenn ich sehr eingebildet wirken könnte, habe ich mich mit den Themen „Wichmann“, „Lind“ und „Shotokan“ inzwischen ausführlich beschäftigt. Länger, als es mir lieb ist. Darum will ich nichts mehr damit zu tun haben. Stattdessen möchte ich Bücher von Menschen lesen, die in der breiten Shotokan-Öffentlichkeit weniger bekannt sind, wie z.B. von Andreas Quast, Heiko Bittmann und Henning Wittwer, aber auch vielen anderen, die nichts schön reden und mystifizieren, sondern aus eigener Erfahrung nüchtern berichten. Und trainieren möchte ich nach Prinzipien der Bewegung und der Selbstverteidigung und da ist es mir egal um welchen Stil es sich handelt. Für mich ist alles, was funktioniert, einfach nur Budo.
Hallo Philipp,
ich freue mich, dass meine karate-nord Webseite dir Informationen liefern konnte.
Was die verschiedenen Prinzipien des Vorgehens („Fallen lasen und Reinbeschleunigen“ oder „in den Boden treten“ betrifft, sehe ich folgende Punkte:
In den Boden zu treten ist nicht schneller. Es beruht auf aktiven Muskeleinsatz einem Aktion-Reaktion Prinzip. Die Aktion ist beim Fallen lassen bereits vorher geschehen, sie geschieht ständig und ist unsichtbar (dynamischer Stand vs statischer Stand). Hier wird nur noch ein Lösen der entsprechenden Muskulatur notwendig und der Körper bewegt sich.
In den Boden zu treten ist für das geübte Auge sichtbar. Man kann es durch Training immer weiter optimieren und immer schneller werden, letztlich bleibt es immer sichtbar. Steht man ausbalanciert muss man zusätzlich stets die Masseträgheit aktiv überwinden. Einer der Gründe des nicht ganz aufrechten Körpers ist es, die Balance immer gebrochen zu haben. Die Kunst ist es, sie immer und plötzlich in die gerade benötigte Richtung brechen zu können. Dies ist der große Unterschied der Shorin Linie zur Goju Linie, die aus bestimmten Gründen eine andere Strategie verfolgt. Manche modernen Stile vermischen beides, dadurch werden die Bewegungsprinzipien aber nicht mehr stimmig mit den Technikprinzipien. Einiges davon wir auf dieser Webseite hier sehr gut angesprochen. Das Gefühl dafür lehren uns die Kata durch ihre Verlagerungen (ich sage bewusst nicht „Wendungen“) des Körpers und des Schwerpunktes in die verschiedensten Richtungen während gleichzeitig Techniken ausgeführt werden.
Das alte Prinzip des Fallenlassens ist wie der Tropfen am Blatt, der sich plötzlich und abrupt löst. Es löst keinen Reflex aus. DIe gesamte Masse ist sofort in BEwegung und hinter der Technik. Wenn eine plötzlich Reaktion wegen einer nahenden Gefahr notwendig wird, ist es leichter, sich im Ansatz auf Muskellösung zu verlassen, als auf Muskelanspannung.
In den Boden zu treten dagegen ist (für das geübte Auge) immer so, als würde das Blatt/ der Ast ausholen, um den Tropfen weg zu schleudern. Es löst mindestens einen Reflex aus.
Viele Grüße und immer viel Spaß an der Kampfkunst,
Olli
Hallo Philipp
zuerst ein Danke für Deine Antwort.
Ich schätze ehrliche Gedanken und Deine Worte waren nie unfreundlich.
Da ich früher öfters im kkb unterwegs war, kenne ich es auch völlig anders.
Nur kurz etwas zu Wolf-Dieter Wichmann, den ich von einem Lehrgang kenne.
War Shotokan – Karate – wie bei uns im Training.
Aber darauf wollte ich nicht verweisen. Sondern auf seine Wochenendlehrgänge auf der Wewelsburg. Da bietet er nicht nur Shotokan- Karate, sondern auch ZEN und Go an.
Sonst kenne ich keinen Karate- Lehrer des DKV – bestimmt gibt es welche – die ihren Schülern das anbieten.
Jetzt möchte ich noch einige Worte zu den Kampfstellungen, Sparring, usw. los werden.
Wenn ich dem Aufsatz von Karate-Nord glauben schenken darf, dann gehörte zum Tode auch die Ausbildung mit Waffen.
Leider ist das auf einem Lehrgang normal sehr selten, daß dort Trainer sind, die das anbieten.
War auf einem längern Lehrgang in Stegen bei Freiburg im Breisgau.
Bei einem der ersten Karate- Meister in Deutschland , Hans-Dieter Rauscher,
http://www.imaf-germany.de/
Dort wurden verschiedenes vorgestellt: Bo, Combat- Arnis, WuShu,
Jiu-Jitsu, Karate- Shotokan, Kick-Boxen,..
was ich für sehr gut fand. Einfach ausprobieren, machte bei den Lehrern viel Spaß und
ich konnte vieles lernen.
Einen Lehrgang von Stefan Yamamoto wollte ich mir noch gönnen.
Habe ihm das eigentlich auch in einem Schreiben im kkb versprochen.
Leider muß ich schon länger aus gesundheitlichen Gründen kürzer treten.
Ich bedanke mich daher für Deine Zeilen und besonders für die kritischen Anmerkungen.
In einem Gespräch über die Kampfsport-Arten sollten alle Teilnehmer höflich sein( das bist Du!)
aber klar ansprechen was die eigene Ansichten dazu sind.
Wünsche mir weitere Artikel von Dir.
Gruß
In der Erforschung der Geschihcte des Karate und Kobudo haben wir vor 1900 kaum niedergeschrieben Fakten. Es sind fast immer „Indizienprozesse“. Ich widme mich daher zwar auch der theoretischen Analyse, jedoch hauptsächlich der Praktischen, Plausiblen. Zum Thema Todi und Waffen: Unsere Langstockformen gehen bis auf Todi (te/e) Sakugawa zurück. Dieser ist ja eine beutende „Figur“ in der Entwicklung des Shorin Karate. Warum sollte er zwei voneinander unabhängige Motoriksysteme für Bewaffnet und Unbewaffnet kreieren, wenn man beides so verbinden kann, dass es sich auch noch ergänzt – der symbiotische Effekt. Das ist die wahre Meisterleistung der „Alten“ meiner Meinung nach. Bo Techniken sind auch in den Karate Kata des Shotokan noch enthalten. Manchmal wird gesagt, es seinen „empty hand“ Abwehren oder Entwaffnungen gegen einen Bo. Dies funktioniert jedoch nicht, wenn der Bo richtig eingesetzt wird.
Eines dem Karate wesentlichsten Prinzipien, das Hiki-Te, geht unmittelbar auf den Bo-Schlag zurück.
Im Karate höre ich manchmal (zur Verbesserung des Zuki) den Satz „Achte nicht auf den vor gehenden, sondern auf den zurück gehenden Arm.“ Dieser Grundsatz stammt vom Bo. Solange man mit dem vorgehenden Arm „drückt“, beschleunigt der Bo A… nicht plötzlich und B… macht aufgrund mangelnder Geschwindigkeit kein sattes Geräusch durch die Luft. Beginnt man jedoch mit der zurück gehenden Hand zu ziehen, ändert sich alles.
Hi Olli,
das mit der Waffenabwehr in Karate-Kata ist natürlich vollkommener Unsinn und die Bewegungen gehen wahrscheinlich auf den aktiven Einsatz von Waffen zurück. Für uns ist es selbstverständlich, aber leider kursiert der Mythos vom Waffenverbot etc. immer noch in deutschen Dojos herum.
Über die Nutzung des Hikite als greifend zurückziehende Hand, aber auch bei der Verwendung des Bo, habe ich bereits vor Jahren in meiner Bachelorarbeit geschrieben. Freut mich, dass es noch mehr Leute gibt, die so denken! Und ich weiß, dass es außer dir und mir noch viel mehr solche gibt, aber dennoch nicht genug.
Ich freue mich sehr, dass du so intensiv hinterfragst. Vielleicht wirst du Gegenwind aus den eigenen Reihen bekommen (haben) aber das sollte dich nicht abhalten :o) . Ich war vor ca 12 Jahren an einer ähnlichen Stelle, nachdem ich 20 Jahre sehr aktiv Shotokan betrieben habe und feststellte, dass vieles nicht plausibel erklärbar weit hergeholt, fehlinterpretiert oder wunschgedacht (zB die Bedeutung von Kara Te als „Leere Hand“ ( keine Waffe zu haben) ist. Ich bekam die ganze Arroganz von manchen Menschen (zum Glück sind bei weitem nicht alle so) zu spüren, die meinten, sie müssten ihren Stil als eine „Art Krone der Schöpfung“ verteidigen, aber eben ohne bessere Argumente. Damals trainierte ich dann auch bei den anderen verbreiteten („älteren“) Richtungen des Karate mit, aber auch dort schien mir vieles nicht plausibel oder gar nicht erklärbar. Mir ist wichtig festzustellen, dass ich das Shotokan nicht schlecht machen möchte, wozu auch? Es gibt mittlerweile fast so viele Auslegungen und Schwerpunkte im Shotokan, wie es Dojos gibt. Durch das Shotokan und dessen „Vater“ fand Karate weltweite Verbreitung und nur durch das Shotokan bin ich letztlich an die (für mich) richtigen okinawanischen Meister gelangt. Auch einen Schwertmeister der alten Schule traf ich per Zufall auf Okinawa. Wer Zeit hat, sollte zusätzlich Iaido studieren. Hiki-Te ist auch eine sehr wichtige Bewegung beim Ziehen des Schwertes. Es sorgt dafür, dass die Klinge früher einsatzbereit ist und dreht den Körper in „Hanmi“, damit dieser nicht mehr frontal ist/ große Angriffsfläche vermieden wird. Das Shotokan ist halt keine Weiterenwicklung (wie es oft propagiert wird) des alten Karate, es ist eine Vermischung aus Altem und Neuem und eben Wettkampf. Die Krux ist, es ist so vieles verwaschen und verschwommen und kaum klärbar, woher die eine oder andere Idee der Motorik wohl kommen mag. Der Wettkampfgedanke ist recht konträr zum Gedanken an eine Selbstverteidigung gegen einen unbekannten Angreifer. Die Kata des Shotokan basieren teilweise auf noch älteren (und man könnte damit sagen, noch originaleren) Kata-Vorbildern als die Standardkata beispielsweise des Matsubayashi Shorin Ryu. Man muss sich auch überlegen, wozu man sein Karate gebrauchen und wie viel Zeit man in das Training stecken kann oder möchte. Will man sich hauptsächlich fit halten und einmal wöchentlich schwitzen oder spürt man die Faszination des Ursprünglichen und will es nachvollziehen können, geistig wie körperlich? Ergänzt man Karate um Kobudo (und sei es nur die Hauptwaffe, der Bo), bedeutet es doppelte Trainingszeit. Dafür übt der Bo symbiotisch das Bunkai fürs Karate. Die meisten Botechniken lassen sich waffenlos einsetzen. Der Bo ist dann der Gegner oder dessen Arm, der geworfen oder gehebelt/ gebrochen wird. Bo ist daher Krafttraining und auch Bunkaitraining für die Karatekata. Die Symbiose ist unglaublich gut gelungen. Vieles, auch die Wirkung des „alten“ Zuki mit einer etwas anderen Faustidee (kommt…. sorry… von den Waffen), lässt sich nicht theoretisch klären. Ich bin immer bereit für praktischen Austausch an wirklich Interessierte. In den meisten Foren geht es chaotich zu, ich halte mich da raus. Sie sind von einzelnen Egos dominiert, die eine Voranbringende Diskussion und Information kaputt machen, indem sie veraltete Vorstellungen verkaufen oder andere „totzitieren“. Am Ende ist es entscheidend….wie bewege ich mich praktisch und wie stimmig passt es zu dem, was wir in den Kata haben. Denn die Kata sind die Bücher, die wir noch haben. Man musste/ wollte nichts niederschreiben, die Bücher des Karate sind die Kata. Allerdings wurden sie sehr stark umgeschrieben, vereinfacht, begradigt usw… :o) Viele Grüße und mach weiter so!!!
Ich erinnere mich an Bilder von und mit Nakayama, wo dieser entsprechende Abwehren zeigte. Allerdings wurde dabei eine Art Boangriff verwendet, die von sich aus fast schon eine Übergabe des Bo an den Partner bedeutete. Solche Bilder und Interpretationen von einer bedeutenden Persönlichkeit schweißen sich natürlich erstmal in das kollektive Bewusstsein eines Stiles ein.