Eine Auseinandersetzung mit Tritttechniken

Tritte sind in vielen Kampfarten wichtig, doch auch nur dann, wenn sie korrekt und effektiv ausgeführt werden. In diesem Artikel möchte ich einige technische Schwerpunkte für die zwei Formen von Tritten beleuchten, die ich für am sinnvollsten erachte – den geraden und den seitlichen Tritt.

Die Technik



Als ich mit Karate begann, hörte ich bei Tritttechniken Tipps wie: Stell dir vor, das Becken wäre wie eine Schaukel und wenn du Mae Geri ausführst, schaukelst du dabei auf dieser Achse. Das würde bedeuten, dass man das Becken stark  kippen müsste, wenn man nach vorne tritt, was einen Rundrücken verursachen würde (siehe Abb. 1). Ein anderer Ratschlag beim Mae Geri besagte, dass der Unterschenkel beim Ausholen an die Rückseite des Oberschenkels klatschen und danach nach vorne auf einer Geraden stechen sollte, wie ein Speer.

Alles gut gemeint, ich verstehe, aber dennoch vollkommener Unsinn aus der bewegungswissenschaftlichen und praktischen Sicht. Mir ist auch bewusst, dass diese Ansichten weltweit in vielen Dojos vertreten (Wortspiel nicht beabsichtigt) werden, doch das macht sie nicht automatisch korrekt.

Abb. 1: Rundrücken beim gekippten Becken.

Abb. 1: Rundrücken bei gekipptem Becken.*

Von vielen Facebook-Gruppen, die etwas mit Karate zu tun haben, kennt man das: Man tritt bei, um etwas zu lernen und untereinander zu kommunizieren und stattdessen sieht man nur Werbung für Lehrgänge, oder Fotos von Meisterschaften (und damit Werbung für bestimmte Verbände). Es gibt aber auch Gruppen, in den Wissen wirklich geteilt wird und es wird meistens auf hohem Niveau diskutiert. In einer solchen Gruppe wurde ich auf ein Video von Dr. Ryan Debell aufmerksam gemacht, in dem er die o.g. Ausführung des Hüftschwunges, auf dem ein Mae Geri angeblich basieren soll, komplett auseinander nimmt. Noch jemand da, der für die Hüftschaukel ist?

Ich setze aber noch einen drauf. In diesem Video erklärt Perry Nickelston von Stop Chasing Pain, warum man das Vorschieben des Kopfes, welches man sehr oft beim o.g. Beckenkippen beobachten kann, vermeiden sollte. Wir haben nun also zwei Details, auf die man beim Mae Geri besonders achten sollten: Die Position des Beckens und die Position des Kopfes.

Abb. 2: Vorgeschobener Kopf nimmt dem Tritt die Kraft.

Abb. 2: Der vorgeschobene Kopf nimmt dem Tritt die Kraft.

Nun zum speerartigen Tritt. Warum muss ein Mae Geri eigentlich immer speerartig stechend sein? So wurde es zumindest mir am Anfang beigebracht. Alle Erklärungen, die ich bisher dazu gehört hatte, waren irgendwie an den Haaren herbei gezogen. Diese Lehrer sollten sich selbst zugeben, dass sie sich und ihre Schüler einschränken, um der Prüfungsordnung gerecht zu werden.

Ich stellte fest, dass ein geschwungener Tritt ebenso schnell und oftmals effektiver sein kann. Wenn der stechende Tritt misslingt, z.B. weil der Gegner seine Position ändert, dann verpufft die Energie in die Luft. Man muss das Bein zurück schnappen und es nochmal versuchen. Schwingt man das Bein jedoch, so kann man entlang der Schwungkurve das Knie, den Schritt, den Bauch oder sogar das Kinn des Gegners treffen, sofern die Beweglichkeit das erlaubt. Wenn der Gegner also nicht gerade zur Seite weicht, so hat man immer noch eine Chance bei all dem Chaos wenigstens etwas zu treffen. Ja, das mag unsauber und nicht perfekt klingen, aber ein echtes Selbstverteidigungsszenario ist eben nicht das, was man in Samurai-Filmen mit Toshiro Mifune sieht, sondern eher das, was man auf Straßenüberwachungskameras beobachten kann.

Abb. 3: Geschwungener Mae Geri mit mehreren Treffpunkten entlang einer Achse.

Abb. 3: Geschwungener Mae Geri mit mehreren Treffpunkten entlang einer Achse.

Das heißt nun aber nicht, dass der nach vorne stechende Tritt keine Berechtigung hat. Alles, was funktioniert, hat eine Berechtigung und sollte auf keinem Fall aus dem Kampfkunststudium ausgeschlossen werden! Man sollte einfach nicht nur auf der einen Ausführung hängen bleiben und alles ausprobieren.

Weiter zum Yoko Geri



Wann hören die Leute endlich auf sich bei seitlichen Tritten nach hinten zu lehnen?? Merken sie selber nicht, dass das nur Selbstbetrug ist? Klar, das Bein wird höher gerissen, da das Becken beim nach hinten Lehnen stark gekippt wird, aber die Höhe ist nur Schein. Da steckt bei den wenigsten Kraft dahinter. Das kann man bei einem Fotoshooting, oder auf einem Wettkampf machen, es aber nicht wirklich ernsthaft meinen!

Abb. 4: Nach hinten gelehnter Yoko Geri Kekomi, mit Schwung, aber ohne Effizienz.

Abb. 4: Nach hinten gelehnter Yoko Geri Kekomi, mit Schwung, aber ohne Effizienz.

Überlege dir folgendes: Der Impuls, bzw. die Wucht des Trittes sollten nach vorne zum Ziel gehen, richtig? Und was passiert, wenn du dich nach hinten lehnst? Ein großer Teil des Körpergewichtes geht nach hinten und nimmt dem Tritt das, was ihm seine Wucht verleiht! Außerdem wirkt sich eine solche Position ungünstig auf die Balance aus. Versuche stattdessen durch ein ordentliches (schonendes) Dehntraining deine Muskulatur so vorzubereiten, dass du deine volle Gelenkamplitude ausschöpfen kannst (das ist die Definition von Gelenkigkeit), ohne dabei die Kraftübertragung, oder die Balance zu benachteiligen. Bleibe mit dem Oberkörper aufrecht und übersetze dein gesamtes Gewicht in den Tritt – nach vorne. Und das gilt auch für die Tritte nach vorne (z.B. Mae Geri).

Das setzt natürlich nicht nur die Dehnbarkeit der Muskulatur voraus, sondern auch ein Verständnis von den an der Bewegung beteiligten Muskelgruppen. Nehmen wir an, du möchtest zur Seite hoch treten, aber dennoch aufrecht bleiben. Du atmest tief ein, hebst dein Knie und merkst schon wie du dich stark zur Seite lehnst. Warum?

Achte mal auf deinen Bauch.

Es kann sein, dass du ihn beim Einatmen, oder beim Heben des Beins angespannt hast, um dein Gleichgewicht zu halten. Das Becken wird bei seitlichen Tritten, je nach Körperbau, mal mehr und mal weniger kippen, das ist normal, dabei kann es aber gegen die angespannte Bauchmuskulatur drücken und somit die Ausrichtung des gesamten Oberkörpers beeinflussen. Wenn du jedoch die Bauchmuskulatur entspannst, hast du Raum für das Becken und kannst so beliebig hoch treten, ohne den gesamten Oberkörper zur Seite neigen zu müssen.

Abb. 5: Wenn man hier (roter Kreis) nicht entspannt bleibt, drückt man sich nach hinten weg.

Abb. 5: Wenn man hier (roter Kreis) nicht entspannt bleibt, drückt man sich nach hinten weg.

Im Unterricht zeige ich den Schülern folgende einfache Übung, mit der man ein Gefühl für und die Kontrolle über diese Muskelpartien bekommt:

  • Stelle dich aufrecht hin und halte dich an etwas fest, was deine Ausrichtung nicht beeinflusst, dir aber erlaubt stabil auf einem Bein zu stehen (z.B. an einer Fensterbank, oder am Tisch).
  • Hebe nun das Trittbein an, sei es für den Mae Geri, Yoko Geri, oder Mawashi Geri. Mache zunächst nur die Hebebewegung, später kannst du den gesamten Tritt machen.
  • Führe die Bewegung langsam aus und bleibe dabei die ganze Zeit über aufrecht.
  • Achte dabei besonders auf die Stelle unter deinen Rippen und merke wie sie anspannt, wenn du deinen Halt lockerst und mehr balancieren musst.
  • Lerne zunächst mit der Unterstützung das Bein hoch und runter zu bewegen, ohne diese Muskeln anzuspannen.
  • Lasse die Unterstützung los und mache das nun, während du das Gleichgewicht wahren musst. Achte nun zusätzlich auf deinen Körperschwerpunkt. Ich stelle mir dazu eine Eisenkugel im Bauch vor, die nicht zu sehr in Schwung kommen darf.
  • Mache das Ganze nun in der gesamten Bewegung, ohne mit den Armen zu schwingen.

Bei mir sieht der Yoko Geri Kekomi so aus und fühlt sich stabil, kontrolliert und kräftig an:

Abb. 6: Yoko Geri Kekomi mit entspannter seitlicher Bauchmuskulatur und aufrechtem Oberkörper.

Abb. 6: Yoko Geri Kekomi mit entspannter seitlicher Bauchmuskulatur und aufrechtem Oberkörper.

Beachte bitte auch, dass dein Körper dir immer noch vorgibt was geht und was nicht geht. Wenn dein Knochenbau dir nicht mehr Höhe erlaubt, als du schaffst, dann versuche nicht weiter. Finde dich damit ab, dass es nie so aussehen wird wie bei Jean Claude Van Damme und bleibe gesund.

Die Tritthöhe



Obwohl ich nun auch über hohe Tritte geschrieben habe, würde ich dir generell davon abraten, sofern du dein Kampftraining für die Selbstverteidigung machst.

Hohe Tritte können Spaß machen und beeindruckend aussehen, deshalb gehören sie höchstens auf Fotos, in Filme und auf Wettkämpfe, wo nichts wirklich seriös ist. Aber in der Realität sind sie selten wirkungsvoll und oft sogar mit einem erhöhten Risiko verbunden, da man in einer chaotischen Situation leicht die Balance verlieren könnte, erst recht unter Einfluss von Alkohol, bzw. anderen Drogen, oder wenn der Boden rutschig ist (Regen, Laub, Schmutz). Außerdem kann die Kleidung einen bei der Ausführung behindern.

In meinem alten Dojo wurde den neuen Schülern eine Geschichte immer wieder erzählt: Da war dieser Typ, der gerade mal seinen 6. Kyu gemacht hatte, aber er konnte schon hoch treten. Als er in Irland war und Nachts Geld vom Automaten abheben wollte, wurde er von zwei Gaunern aufgefordert das Geld zu überreichen. Ohne lange zu zögern verpasste er dem Nächsten einen Mawashi Geri zum Kopf, dieser Kippte um, der andere floh direkt in die Hände einer Polizeistreife um die Ecke. Ende gut, alles gut und die Geschichte wurde mit deutlichem Stolz erzählt, als hätte der Lehrer tatsächlich etwas mit dem Erfolg dieses Schülers zu tun. Damals beeindruckte mich die Geschichte und ich machte gerne hohe Tritte, die ich, trotz meines natürlichen Mangels an Beweglichkeit (sehr festes Bindegewebe) ganz gut hinbekam, indem ich mich nach hinten lehnte. Doch mit der Zeit änderte sich meine Einstellung zu der Geschichte um 180°.

Der Typ hatte einfach verdammtes Glück!

Nicht nur ist eine Gegenwehr gegen zwei Angreifer äußerst riskant, es ging auch noch um etwas derart wertloses wie Geld. Dafür riskierte der Typ mit seinem Leben! Er hätte wegrutschen können und man hätte ihn auf dem Boden abgestochen! Der Angreifer hätte unter Einfluss von Drogen stehen können und der Tritt würde dann nicht den erwünschten Effekt haben – abgestochen! Mit dem zweiten Angreifer hätte er weniger Glück haben können – abgestochen!

Aus der Sicht der Selbstverteidigung hatte er in vielerlei Hinsicht eine Dummheit nach der anderen getan und dennoch Glück gehabt. Das ist ganz bestimmt keine Geschichte, die man mit Stolz den neuen und leicht beeinflussbaren Schülern erzählen sollte.

Tritte sollten in meinen Augen generell nur sehr selten und dann auch nicht über der Gürtellinie ausgeführt werden. Die primären Ziele sollten die Knie, die Oberschenkelinnenseiten (da wo die Blutgefäße liegen) sowie der Genitalbereich sein. Knie sind meine Lieblingsziele,  da man aus fast jedem Winkel eine Störung der Balance verursachen und somit den Gegner besser kontrollieren könnte. Aus diesem Grund trete ich im Training fast ausschließlich nur auf Kniehöhe, während ich aber dennoch meine Beweglichkeit durch Yoga und ein begleitendes Dehntraining verbessere. Ich könnte auch höher treten, aber was macht das für einen Sinn, wenn ich dies in der Praxis eh nie anwenden würde?

Meister Ken trifft in diesem Video den Nagel auf den Kopf (bzw. seinen Partner in die cojones).



Übe bitte nur das, war du später wirklich brauchst. Dein Nervensystem muss sich durch das motorische Lernen an die richtigen Winkel gewöhnen und die Muskeln sollten in diesen Winkeln die größte Kraftentfaltung schaffen und Effizienz beweisen. Übst du die Tritte durcheinander, so wirst du im Notfall möglicherweise inadäquat reagieren. Wenn auch dein Schwerpunkt das Training der Selbstverteidigung ist, so solltest du ein solches Training vermeiden.

Außerdem bitte ich dich im Training auf deinen Körper zu achten. Das habe ich bereits im Kiba-Dachi-Artikel immer wieder betont: Du möchtest durch das Training deine Gesundheit erhalten/fördern und nicht einschränken!



* Danke an Justus Kruse für die Fotos.

Danke, dass du den Artikel zu Ende gelesen hast!

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