Es gab einst ein relativ kleines, aber kulturell entwickeltes und wohlhabendes Inselkönigreich namens Ryukyu. Es lag ziemlich genau zwischen Japan, China und Korea und war, trotz der geringen Größe, ein wichtiger Handelspunkt. Es ist genau dieses Königreich, das als Geburtsstätte des Karate bezeichnet wird. Es soll nämlich vorgefallen sein, dass im Jahre 1600 während der Schlacht von Sekigahara Tokugawa Ieyasu mit seinen Verbündeten die Macht an sich riss und die Sengoku Jidai, die Zeit der kriegsführenden Lande, einen Jahrhunderte lang andauernden und schrecklichen Bürgerkrieg, endgültig beendete.
Satsuma… Shimazu… Ryukyu… HÄ?
Der Shimazu-Klan stand dabei auf der Verlierer-Seite und um für sich die Gunst des neuen Herrschers (Tokugawa) zu gewinnen…
An dieser Stelle hielt ich es für eine gute Idee bei Wikipedia nachzuschauen, was mich entlang eines Kaninchenbaus der Korrektur führte und ich die nächste Stunde damit verbrachte den bestehenden (besch… eidenen) Eintrag zu dem Shimazu-Klan zu korrigieren und mit guten, historisch belegten Quellen zu versehen. Au weia, in 2024 so etwas noch zu lesen war echt geistig schmerzhaft!
…nun, in der Hoffnung, dass die Korrekturen übernommen werden, mache ich mit dem eigentlichen Artikel weiter:
Der Shimazu-Klan stand dabei auf der Verlierer-Seite und um für sich die Gunst des neuen Herrschers zu gewinnen, erschien es ihnen wohl als eine gute Idee das kleine Königreich im Süden zu übernehmen und zu einem Vasallenstaat Japans mit der Möglichkeit des Handels mit den nahegelegenen Staaten zu machen, was sie 1609 auch taten.
Die Rede ist hierbei oft von der „Satsuma“-Übernahme, denn der Shimazu-Klan hatte seinen Sitz im Landkreis Satsuma (heute ein Teil von Kagoshima), in der südjapanischen Provinz Kyushu. Streng genommen sollte also die Rede von der Shimazu-Übernahme sein. Deswegen wird fortan auch die entsprechende Formulierung benutzt.
Die Übernahme geschah relativ schnell und unkompliziert: Trotz eines gewissen Widerstandes waren die Kräfte der Shimazu weitaus überlegener und schon bald war Ryukyu ein Vasallenstaat Japans.
Es wurde dennoch beschlossen, dass Ryukyu ein weitestgehend unabhängiges Königreich bleibt, das weiterhin Handel zwischen Japan und China (sowie den angrenzenden Ländern) betreibt. Einer der möglichen Gründe dafür war wohl die Isolation Japans von der restlichen Welt sowie der Versuch diese Isolation, zumindest im Handel, zu umgehen (so wie heute, war es vor 300 Jahren nicht anders – siehe Sanktionen gegen Russland, wie Deutschland sich wirtschaftlich selbst Steine in den Weg legt und wie es versucht diese wiederum zu umgehen).
Waren die Shimazu reine Besatzer ohne Gunst?
Zu beachten ist, dass das Ryukyu-Königreich eigentlich ein Zusammenschluss aus drei Gebieten war, in dem es untereinander stets Streitereien gegeben hatte. Erst die Übernahme durch die Shimazu sorgte endgültig für Frieden. Vielleicht wurde dadurch auch ein Bürgerkrieg durch einen Feind von außen unterbrochen (das typische „wir schließen uns zusammen, bis wir den gemeinsamen Feind besiegt haben“), doch es macht eher den Eindruck, als hätte der Shimazu-Klan tatsächlich für Frieden im Innen UND auch im Außen gesorgt (Bittmann: S. 68; Quast, 2015: S. 55, S. 97ff.).
Es wurde sogar niedergeschrieben, dass die japanischen Besatzer sich aktiv zurück zogen, wann immer chinesische Delegationen nach Ryukyu kamen, um nicht den Eindruck zu erwecken, Ryukyu wäre nicht unabhängig (Quast, 2013: S. 110).
Dennoch wurde für weitere Sicherheit gesorgt und Mitglieder der Krieger-Kaste (Samure) wurden in den Kampfkünsten unterrichtet in der Erwartung sie könnten dieses Wissen verinnerlichen (durch ihre adelige „Beschaffenheit“) und weitergeben als vollwertige Lehrer.
Unabhängig von diesen Fakten, hat sich ein Mythos durchgesetzt, der besagt, dass die Bauern Ryukyus sich gegen die ach-so-bösen Shimazu-Samurai wehren mussten und dafür lernten zu kämpfen. Betrachten wir diese Idee rein logisch:
Ein Mensch, dessen Leben real (!) davon abhängt, dass er früh morgens aufsteht und den ganzen Tag Feldarbeit verrichtet, kommt spät Abends, völlig kaputt von der sehr anstrengenden Arbeit, nach Hause, soll sich noch um den Haushalt, die Kinder, das Essen etc. kümmern und DANN noch Zeit, Kraft UND Geld finden, um ein Kampfkunsttraining abzusolvieren und das an mehreren Tagen der Woche?
Und gegen wen soll dieser Mensch dann kämpfen? Gegen Angestellte des Königreichs (und damit sein und das Leben seiner Familie riskieren)? Gegen bestens ausgerüstete Samurai oder bis an die Zähne bewaffneten chinesischen Piraten?
Sorry, aber die Realität ist viel härter als in Kampfkunstfilmen dargestellt.
Um diese Absurdität zu verbildlichen, habe ich diese fiktive Szene generieren lassen:
Waffenverbote
Diese Art Mythos gehört in die gleiche Sparte mit den Waffenverboten und der Geheimhaltung des Kampfkunsttrainings – Klingt gut, stellt die Okinawaner als etwas besonderes dar, zeichnet ein klares Feindbild (die Shimazu/Japaner), ist aber historisch nicht nur unbelegt, sondern auch klar widerlegt.
Über die angeblichen Waffen- und Karate-Verbote hatte ich bereits einen Artikel verfasst, aber ich fasse nochmal sehr kurz zusammen:
- Zu Zeiten der Regentschaft von Sho Shin wurden Waffen nicht verboten und diese Annahme basiert auf einem Interpretationsfehler. Im Gegenteil: Es wurde eine erhöhte Militarisierung dokumentiert sowie Waffenhandel und wahrscheinlich auch privater Waffenbesitz.
- Auch gibt es keine eindeutigen Nachweise darüber, dass die Shimazu das Tragen und den Besitz von Waffen verboten hätten. Viel eher sprechen alle Beweise dagegen (Bildmaterial, überlieferte Texte, Logik…) (Bittmann: S. 30-57; Quast, 2015: S.54-57, S. 68f.).
- Die so ziemlich wichtigste, bzw. bekannteste Quelle über die Karateverbote ist Gichin Funakoshis Bericht darüber, wie er Nachts heimlich zu seinem Lehrer schlich, um Karate trainieren zu können. Dabei handelt es sich um einen Übersetzungsfehler seiner Biografie, was sehr gut von Henning Wittwer in diesem Artikel beschrieben wird.
- Weitere Gründe für eine inoffizielle (!) Geheimhaltung des Karatetrainings werden von mir in diesem Artikel geschildert. Im gleichen Artikel beschrieb ich, dass die Art vom halbwegs öffentlichen Training erst nach der Meiji-Restauration 1872 wirklich nach außen trat (Bittmann, S. 68f.), auch wenn einige einzelne Trainer schon davor öffentlich unterrichteten. Von einem von der Regierung verbotenen Training kann also keineswegs die Rede sein.
Wer waren die Meister?

Filmplakat von den Sieben Samurai.
Wie es so oft formuliert wird, insbesondere mit den Bauern im Vordergrund, macht es den Anschein, als wären es vor allem die ärmeren, unterdrückten Landwirte, die sich Karate aneigneten, um sich gegen die Shimazu-Samurai zu schützen, was eine klare Parallele zu dem Film Seven Samurai und der Robin-Hood-Geschichte darstellt, die den Kern der okinawanischen Kampfkünste gebildet hatten. Aber gerade wenn die Geschichte sich mit bekannten und beliebten Mythen überschneidet, sollte man alles doppelt und dreifach hinterfragen.
Heiko Bittmann schreibt direkt, dass die chinesischen und japanischen Kampfkünste, also einige der Vorläufer des Karate, von Angehörigen der Samure-Klasse, wahrscheinlich noch vor der Shimazu-Übernahme, entwickelt wurden (S. 213). Das schließt die Bauern und andere, ärmere Schichten des Volkes schon mal aus der Entwicklung aus.
Betrachten wir, in Bezug dazu, welchen sozialen Status die bekanntesten Karatelehrer hatten, am Besten über mehrere Generationen hinweg:
- Matsumura Sokon: Leibwächter mehrerer Könige.
- Higaonna Kanryō: Nachkomme einer Samure-Familie, Sohn eines Händlers, Chikudōn Peichin.
- Arakaki Seishō: Beamter am königlichen Hof, Chikudōn Peichin.
- Ankō Asato: Angehöriger der Tōnchi-Klasse (Lehnsherr; eine der höchsten gesellschaftlichen Klassen in Ryukyu). Er diente außerdem 13 Jahre lang als Staatsminister für König Shō Tai. (Wittwer: S. 21)
- Ankō Itosu: Nachkomme einer Samure-Familie, Chikudōn Peichin.
- Chibana Chōshin: Stammte aus einer adeligen Familie.
- Motobu Chōki: Stammte aus einer adeligen Familie (sein Vater war ein Aji, also nur einen Rang unter einem Prinzen).
- Motobu Chōyū: Älterer Bruder von Choki und noch einflussreicher als dieser, s. o.
- Kōsaku Matsumora: Nachkomme einer Samure-Familie (Shizoku).
- Chōtoku Kyan: Nachkomme einer Samure-Familie, Verwandter des Motobu-Klans, also auch Teil der Adelsfamilie. Dabei ist zu beachten, dass er als Vertreter des Inaka-Ti („Ti vom Lande“, also das Ti (Vorreiter des Karate), das sich großflächig verbreitete, noch bevor es in den Schulen unterrichtet wurde) beschrieben wird (Wittwer: S. 16).
- Chōjun Miyagi: Sohn eines Arzneimittelhändlers.
- Gichin Funakoshi: Nachkomme einer Samure-Familie, Sein Vater trug den Titel Peichin, war ein Bojutsu-Meister und Freund von Ankō Asato. Er führte Gichin bereits im Kindesalter in die Grundlagen der Kampfkünste ein.
- Kenwa Mabuni: Nachkomme einer Samure-Familie, Sohn eines Süßwarenhändlers, der auch den Titel Pechin trug, Nachfahre von Ufugusuku Kenyu, dem bekanntesten Krieger des Ryukyu-Königreichs.
- Ōtsuka Hironori: Sohn eines Kinderarztes und Internisten.
- Yabu Kentsu: In einer Peichin-Familie aufgewachsen.
Diese Liste ist bei weitem nicht vollständig, denn es gab viel mehr große Meister. Ich habe lediglich die bekanntesten Namen aufgezählt, die selbst Anfänger der Karatekünste kennen könnten. Zu bemerken ist auch, dass selbst wenn einige dieser Lehrer im späteren Leben in relativer Armut lebten, teilweise durch die Meiji-Restauration (und die Abschaffung des Adelstitels), teilweise durch die Kriege, dies nichts an ihrer Abstammung und möglicherweise nichts an ihrer damit einhergehenden Geisteshaltung sowie ihren tatsächlichen Berufschancen geändert haben könnte. Viele von ihnen hatten zumindest das Glück in ihren jungen Jahren genug Freizeit und Mittel für das Training gehabt zu haben.
Finanzierung des Trainings?
Asato schrieb über die Anfänge des Genseiryu auf Ryukyu, die wohl auf einen gewissen Takemura aus Momohara zurück gehen, der zuerst Shuri-te von Sakugawa Kanga lernte. Takemura soll wohl in Kagoshima auf Staatskosten trainiert haben (Wittwer, S. 9). Es ist also anzunehmen, dass er den Auftrag hatte, gut in den Kampfkünsten zu werden, also wahrscheinlich aus einer Samure-Familie stammte und darum die staatliche Unterstützung erhielt.
Für mich klingt das nach einer gängigen Praxis für ausgewählte Krieger, nicht nach einer obskuren Kampfkunst, die von der unterdrückten Unterschicht insgeheime ausgeübt wurde.
Daraus folgt, dass einige Lehrer, wie bereits erwähnt, nicht kostenlos unterrichtet hatten. Wenn man staatlich nicht unterstützt wurde, so hätte man sich das Training leisten müssen. Das bestätigt die Aussage von Motobu Chokis Sohn über die adelige Herkunft seines Vaters und die eher wohlhabenden Umstände seiner Jugend (Goodin: S. 12).
Hier ein direktes Zitat dazu:

Foto von Motobu Choki in einem europäischen Anzug. Koloriert von einem Algorithmus, manuell nachgebessert von mir.
„Aufgrund der [hierarchischen] Position seines Vaters und dessen Reichtums, musste Motobu Choki in seiner Jugend und sogar im Erwachsenenalter nicht arbeiten. Selbst nachdem Okinawa zu einer japanischen Präfektur wurde und der Adeligen-Stand abgeschafft wurde, konnte die Motobu-Familie ihre Ländereien und den Wohnstand beibehalten. Das erklärt, warum Motobu Choki es sich leisten konnte so viel Zeit mit dem Erlernen und Üben von Karate zu verbringen.
Viele ältere Okinawaner erzählen mir, dass in der Anfangszeit Karate etwas war, was sich nur die Reichen (gemeint war der Adel) leisten konnten zu erlernen. Das einfache Volk wachte üblicherweise vor dem Sonnenaufgang auf und bearbeitete die Felder oder fischte den ganzen Tag in dem See. […] Es gab weder Zeit für mitternächtliche Karate-Stunden an einem Familiengrab, noch hatten sie Geld für den Unterricht“ (Goodin: S. 13, übers. von Philipp Surkov)
Funakoshi schrieb in einer seiner Kurzgeschichten:
„Während [Meister Asatos] Jugend, konnten nur wenige Kampfkunst-Interessierte sich ergänzendes Trainingsequipment leisten, welches heutzutage üblicherweise mit Training assoziiert wird. Jedoch bildete Asato eine Ausnahme und das lag daran, dass er aus einer Familie des Wohlstands und [politischer] Stellung stammte und sich solche Dinge leisten konnte.“ (Funakoshi, S. 46, übers. von Philipp Surkov)
Über das Finanzielle hinaus, wurde wohl noch der bereits oben erwähnte Stand in Erwägung gezogen. So schrieb Asato:
“Von alters her wurden ungebildete Menschen nicht zu großen Kampfkünstlern.“ (Wittwer, S. 18)
Dies ist die Meinung von einem zwar hoch angesehenem und einflussreichem Menschen, aber dennoch von nur einem Menschen, doch das spricht trotzdem Bände. Solche Menschen quatschten nicht einfach so vor sich hin wie die durchschnittlichen Internetbenutzer – alles von ihnen Geschriebene ging in die Geschichte ein und das war ihnen wahrscheinlich schon damals beim Schreiben bewusst. Daher sollte jedes dieser Wörter genau abgewogen und als primäres Zeitzeugnis angesehen werden, verglichen mit sekundären und tertiären Quellen oder gar den modernen, durchschnittlichen Bloggern, die ihre Infos aus dem großen World-Wide-Web durch Copy-Pasta beziehen ohne wirklich nachzuforschen.
Fazit
Abschließend gibt es zu dem Thema nichts schöneres als ein direktes Zitat von jemandem, der bereits vor Jahrzehnten angefangen hatte diese Mythen und die Meister dahinter zu hinterfragen. Es geht um Mark Bishop, der auf Okinawa bei verschiedenen Meistern gelernt und ein sehr kritisches Buch darüber geschrieben hatte (sollte auch mit Vorsicht genossen und hinterfragt werden, scheint aber dennoch eine gute, zuverlässige Quelle zu sein, wenn Mark auch wörtlich überträgt und keine schriftlichen Zeugnisse vorweist):
„Es ist wichtig hierbei zu betonen, dass vor 1879 die Kampfkünste auf Okinawa nur für die Familien der Oberschicht vorbehalten waren und selbst nach diesem Datum nur wenige aus dem einfachen Volk in der Lage oder gewillt waren diese auszuüben. Ich fand nicht einen einzigen Fetzen eines historischen Beweises, der auch nur annimmt – wie es so oft dargestellt wird – dass waffenlose okinawanische Bauern Kampfsysteme entwickelten, um ihre Satsuma-Herrscher zu stürzen. Im Gegenteil, […] sämtliche Beweise zeigen, dass nach 1609 Ti zur Selbstverteidigung sowie als persönliches Hilfsmittel zur Selbstentfaltung innerhalb des Adels ausgeübt wurde.“ (Bishop, S. 10, übers. von Philipp Surkov)
Zugegeben, es ist nur ein Zitat von einem, teils umstrittenen, Forscher, aber die anderen Quellen bestätigen das mit anderen Worten auch. Und natürlich gab es auch Ausnahmen, einzelne Menschen aus dem einfachen Volk, die versuchten es dem Adel nachzuahmen, irgendetwas zu erlernen, um sich gegen Verbrecher und evtl. Piraten (nicht die Samurai) zu schützen, aber diese sind nicht gut genug belegt. Und wie wir wissen, bestätigt die Ausnahme die Regel.
So viel dazu, genug von mir! Was denkt ihr über dieses Thema? Habt ihr Quellen, die meine These widerlegen könnten? Ich wäre wirklich sehr interessiert daran. Bitte schreibt eure Meinung bzw. die Fakten in die Kommentare.