„Flucht ist nur etwas für Feiglinge“? Vorbereitung auf und Vermeidung von Gefahrensituationen

Selbstverteidigungstraining ist sehr vielschichtig, alleine Kampftechniken zu trainieren genügt da nicht. Und dann gibt es da noch Adrenalin und Cortisol, die deine wahre Persönlichkeit, welche auch immer, zum Vorschein kommen lassen. Wie soll man sich für eine Notsituation vorbereiten und welche Faktoren können die Art und Weise wie man dann handelt beeinflussen? Ein kurzer Überblick anhand einer realen Geschichte…

Eine reale Geschichte

Vor nicht zu langer Zeit sprach mich eine junge Frau im Training an. Sie war an dem Abend zuvor auf einer Feier unterwegs und wurde in der Menschenmenge von einem unbekannten Kerl angebaggert. Sie löste sich sofort von ihm und ging weg, als sie aber zu Hause ankam, überkam sie ein Gefühl der Hilflosigkeit in Verbindung mit Vorwürfen, denn weil sie Karate macht, hätte sie ja mehr machen können als das.

Sie fragte mich, warum sie im Training so selbstsicher wirkt, aber in der Situation, als es wirklich darauf ankam, nichts anderes tun konnte, als passiv wegzugehen.

Zunächst erklärte ich ihr, dass sie aus der Sicht der Selbstverteidigung genau das Richtige gemacht hat. Schließlich hätte man nicht wissen können wie der Typ wirklich drauf war. Wenn sie sich aktiv gewehrt und ihm z.B. eine Ohrfeige verpasst hätte, so hätte er möglicherweise komplett ausrasten, ihr auf dem Weg nach Hause auflauern und sie überfallen können. Menschen sind zu vielen Dingen fähig und das darf man nicht unterschätzen. Also war ein einfaches Weggehen gleichgesetzt mit einer Flucht, und Flucht ist der erste intelligente Schritt bei aktiver Selbstverteidigung. So weit alles gut. Oder?

Das Problem lag nicht in der Art wie sie reagierte, sondern in der Art wie sie dachte wie sie hätte reagieren sollen!
Iain Abernethy hat das schon mehrmals in seinen Podcasts angesprochen: Wir denken oft, dass wir, nur weil wir Kampfarten trainieren, diese auch unbedingt einsetzen müssten. Das ist aber nicht so. Bei Selbstverteidigung heißt es in erster Linie körperlich unversehrt zu bleiben. Was gibt es sichereres, als einer Gefahrensituation aus dem Weg zu gehen? Nichts.

„Der Kampf beginnt dann, wenn die Selbstverteidigung bereits versagt hat.“

„Temet Nosce“ – Erkenne dich selbst!

Diese Frau wurde im Training mit dem Gedanken erzogen, sie müsste unbedingt etwas aktiv tun, sie müsste dem Grobian zeigen wo es lang geht! Dieser Gedanke ist oft mit Stolz und weiteren Ego-bezogenen Vorstellungen verbunden. Gichin Funakoshi schrieb auch schon darüber wie schädlich Stolz ist und dass er zu großen Problemen führen kann (vgl. Funakoshi 1993: 73ff.). Es ist ein Ego-Spiel. Erkennt man es also als solches, könnte man sich einige Fragen stellen: Warum ist es für einen persönlich wichtig sich selbst beweisen zu müssen? Ist es ein Mangel an Selbstwertgefühl? Was sind die Gründe für diese Unsicherheit? Könnte man das Ganze auch anders lösen, sicherer und auf Dauer lehrreicher?

Ich kann nur aus der eigenen Perspektive sprechen, aber ich sage dir gleich vorab: Ich habe Minderwertigkeitskomplexe und bin ein „Feigling“. Als Kind wurde ich oft verprügelt und bevorzugte es deshalb potentiellen Problemen sofort aus dem Weg zu gehen, was bei meiner großen Klappe notgedrungen zu einer hohen Kunst verfeinert werden musste. Mit Mühen lernte ich „nein“ zu sagen, wenn es wirklich sein musste (und nicht etwa aus Prinzip) und fing mit den Kampfkünsten an, aber auch heute ziehe ich es vor Konflikte zu vermeiden. Tut man dies bewusst und nicht nur aus Angst, so ist das eine gute Sache, doch bis dahin muss man mit sich selbst ins Klare kommen. Da ich heute verstehe, dass niemand mir wirklich Böses tun möchte (z.B. im Streit o.ä.), niemand wirklich im Kern schlecht ist und jede Person mehr oder weniger böse Dinge tut, weil sie selbst verletzt ist und u.a. verstanden werden möchte, kann ich viel besser mit Konfrontationen umgehen. Ich verliere mich nicht mehr in paranoide „ich gegen alle“ Illusionen, den viele Kampfkunstanfänger zu unterliegen scheinen und würde auch dich davor warnen. Diese Einsicht ist wirklich nützlich für Alltagssituationen, jedoch nicht unbedingt, wenn auf dich ein Angreifer mit einer Waffe zukommt.

Zurück zu der Frau und ihrer Situation. Was sollte sie tun um

  1. zu vermeiden, sich nach einer Fluchtsituation derartige Vorwürfe zu machen,
  2. künftig in einer solchen Situation genauso, aber bewusst zu handeln und
  3. sollte die Situation sich verschärfen, adäquat zu reagieren.

Zunächst sollte sie die Prinzipien der Selbstverteidigung erlernen: Gefahrensituationen kennen, erkennen, einschätzen und vermeiden. Das ist ein Thema für sich und mehr als einen separaten Blogpost würdig, deshalb werde ich mich hier nur kurz fassen. Wer Iain Abernethy, Peter Consterdine, Geoff Thompson und ihren Freunden folgt, weiß was hier gemeint ist. Hat man diese Dinge verinnerlicht, wird man sich nicht mehr als Feigling fühlen, wenn man die Flucht ergriffen hat, sondern wissen, dass das der klügste Schritt war.

Also ich würde da auch weglaufen!

Dass der Frau in ihrer Situation keine wirkliche Gefahr drohte, sie sich aber dennoch sehr bedroht gefühlt hatte und sich nachher Vorwürfe machte, sagt einiges über sie aus: Sie sollte zunächst sich selbst kennen, erkennen und verstehen. Was will sie mit Karate erreichen? Fitness, Spaß, oder Selbstverteidigung? Was hält sie von sich selbst? Vielleicht sogar: Was hält sie von Männern allgemein? Wie war ihre Beziehung zu ihrem Vater?
Diese Fragen kann man nicht klären, wenn man sich selbst nicht achtsam beobachtet. Als Kampfkünstler kommt man nicht umher.

Für mich sind die Verarbeitung von Emotionen, Psychotherapie (die wir, dank der Erziehung unserer Eltern und der gesellschaftlichen Irrglauben, alle mehr oder weniger nötig haben), Kampfkunst und Meditation eng miteinander verbunden und das ganz ohne Zen-Gedanken und weiteren Pseudo-Spiritualitäten. Das verstehe ich unter der gepriesenen und immer wiederholten Charakterschulung durch Kampfkunst. Das braucht aber mehr, als stumpfes, schweißtreibendes Training drei Mal in der Woche. Viel mehr sollte man interdisziplinär an sich arbeiten, also die Zusammenhänge zwischen Kampf, Bewegung, Körper und Geist (aka. Psyche) studieren und umsetzen. Einer meiner ehemaligen Karatelehrer macht z.B. ein schweißtreibendes Tabata-Training, danach Okinawan Goju-ryu und dann setzt er sich hin und meditiert und auf mich wirkt er sehr ausgeglichen, auch in Gesprächen geht hervor, dass er sich selbst ziemlich gut versteht. Das kommt nicht einfach so per Zauberhand und ist in der Karatewelt in einer derart authentischen Form eher selten anzutreffen.

Das Problem ist, dass diese Selbsterkenntnis viele Jahre, oder sogar das ganze Leben in Anspruch nehmen kann. Sie sollte immer parallel zu den restlichen Aktivitäten stattfinden und sie durchdringen. Nicht umsonst heißt es bei Funakoshi

„Verbinde dein alltägliches Leben mit Karate, das ist der Zauber der Kunst.“

und

„Die Ausbildung im Karate umfasst Dein ganzes Leben.“

(ersetze Karate z.B. durch Selbsterkenntnis und du bekommst meine Aussage)

und zu guter Letzt

„Erkenne dich selbst zuerst, dann den Anderen.“

„Erkenne dich selbst“, dabei helfen u.a. Meditation, Psychotherapie und Achtsamkeitstraining

Ein unerwarteter Angriff kann aber schon morgen geschehen! Was tun?

Trainieren! Aber bitte richtig. Damit meine ich, dass man sich im Training die Realität simulierend auf möglichst viele Situationen vorbereiten soll. Dazu zählen u.a. realistische Angriffe, gegen die man seine Techniken üben sollte. Einen geraden Tsuki mit darauf folgender Pause oder einen geraden Messerangriff wird in der Realität niemand machen, das weiß jeder, der sich etwas seriöser mit Selbstverteidigung beschäftigt. Man kann diese Angriffsszenarien trotzdem nutzen, um bestimmte Bewegungsprinzipien zu üben, nicht aber um die Realität zu simulieren (wie z.B. Angriffe mit dem Schwert aus dem Iaido oder im Aikido). Es müssen also Schwinger, Würger, Stöße zur Brust uvm. geübt werden, wenn man halbwegs gut darauf vorbereitet sein möchte. Auch sollte man bedenken, dass Frauen in vielen Fällen anders angegriffen werden als Männer, da die Angreifer unterschiedliche Ziele verfolgen könnten.

Leider praktizierte die o.g. betroffene Frau ein 0815-„Karate“, das man in einem Großteil deutscher Dojos vorfindet. Einer meiner Trainingspartner hat früher auch in so einem Dojo trainiert und geglaubt, was ihm dort erzählt wurde, bis er Zeuge einer gewalttätigen Auseinandersetzung in einer Disco wurde. Dann leuchtete ihm ein, dass in so einer Situation nichts von dem, was ihm beigebracht wurde, funktioniert hätte. Weil viele Karateka in unserer Gesellschaft und Zeit nur selten echter Gefahr ausgesetzt sind, hinterfragen die wenigsten die Inhalte ihres Trainings. Ein ineffektives Training, in dem immer wieder betont wird wie effektiv es für die Straße ist, ist verantwortungslos und gefährlich, denn es erzeugt beim Übenden ein falsches Image von Sicherheit, das in einer echten Gefahrensituation sehr schnell gesprengt werden kann. Im besten Fall führt das zu großer Enttäuschung und dem Gefühl der Machtlosigkeit… im schlechtesten Fall… zum Tod.

Verbale Deeskalation, Schock- und Fluchttraining

Zuerst denken wir als Kampfkünstler natürlich an Kampftechniken und ihre Umsetzung, aber so weit sollte es eigentlich gar nicht kommen. Wir simulieren nur die schlimmste Situation und denken, dass das alles ist. Man kann aber auch vorbereitend trainieren, um diese Situation komplett zu vermeiden. Achtsamkeits- und Aufmerksamkeitstraining sind z.B. eine Sache, verbale Deeskalation eine weitere, die Flucht muss aber auch gekonnt werden. Wenn wir diese Dinge nicht üben, werden wir oft überrascht und können nicht adäquat reagieren. Wenn man nie beschimpft wird und jemand einem plötzlich mit hasserfüllter Stimme alle möglichen Ausdrücke an den Kopf wirft, ist man zunächst überfordert und das verschafft dem Gegner einen Vorteil. Wenn eine Frau unerwartet von einem Unbekannten angegrabscht wird, kann es zudem tief verwurzelte Unsicherheiten und das Gefühl, als Objekt behandelt zu sein, hervorrufen, was zu Angst, Wut, oder anderen Emotionen führt mit den wir meistens nicht umgehen können. Das. Muss. Geübt. Werden.

Manchmal ist man der realen Gefahr hilflos ausgeliefert und wie paralysiert… wenn man sich darauf nicht vorbereitet.

Nun habe ich sehr stark zusammengefasst die Themen Selbsterkenntnis, Vorbereitung auf und Vermeidung von Gefahrensituationen, sowie realitätsnahes Selbstverteidigungstraining angesprochen. In einem guten Training gehört das zum Grundwissen. Wie ich bereits sagte, könnte man zu jedem dieser Themen eine Menge separat schreiben und das werde ich mit der Zeit auch tun. In diesem Artikel wollte ich nur eine häufig vorkommende reale Situation mit ihren ebenso häufigen Folgen beschreiben und meine Gedanken dazu, was tatsächlich vorgefallen sein könnte und wie man sich darauf hätte vorbereiten können, festhalten. Ich hoffe, dass mir dies gelungen ist. Solltest du Fragen haben, so scheue bitte nicht davor einen Kommentar zu hinterlassen!

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9 Kommentare, sei der nächste!

    1. „Nue eine“ würde ich nicht behaupten. Manchmal hat man keine andere Wahl, weil alles andere nicht möglich ist und dann bleibt einem nur der Kampf.

      1. Wenn einem nur der Kampf bleibt, hat man trotzdem „verloren“. Man konnte den Kontrahenten nicht anderweitig klar machen, dass es nichts bringt zu kämpfen. Man verliert immer, auch wenn man gewinnt.

        1. Ich bin mit dieser selbsterniedrigenden Idee nicht einverstanden. Es gibt Personen, den kann man alles noch so gut erklären, versuchen zu fliehen etc. (also wirklich alles richtig machen) und die kapieren es trotzdem nicht und wenn diese weiterhin mein Leben, oder das Leben meiner Lieben bedrohen, dann möchte ich sie ausschalten können, ohne mich danach mies zu fühlen. Dass das angeblich unbedingt dazu gehört, ist so eine ausgedachte und realitätsfremde Moralkeule aus vergangenen Zeiten. Manchmal ist Gewalt tatsächlich die einzige Antwort.

          1. Meine Meinung ist nicht selbst erniedrigend, sondern Erfahrung.

            Ich war früher ziemlich streitsüchtig und habe keinen Kampf gescheut und die Meisten auch gewonnen. Seit meinem 18. Lebensjahr betreibe ich Kampfkunst. Zuerst Judo und seit meinem 35. Lebensjahr Karate.

            Natürlich werde ich mich energisch zur Wehr setzen, wenn mir keine andere Möglichkeit bleibt oder ich meine Familie oder Andere damit helfen kann und/oder Gefahr abwende.

            Mir ist es bisher aber immer gelungen, andere davon abzuhalten mich anzugreifen und hoffe das mir das immer gelingen wird.

  1. Hallo

    guter Aufsatz wie immer!

    Selbstverteidigung beginnt zuerst im Kopf.
    Deine Worte und auch einige Bücher gehen auf dieses Thema mit vielen Erläuterungen ein.

    Ich beschäftige mich schon einige Zeit damit,
    Das Buch von Andreas Häckel, Selbstverteidigung die funktioniert,
    haben mir viele Anregungen gegeben.

    Mit der Verteidigung gegen Messerangriffe, bin ich nicht wirklich glücklich.
    Das Spiel mit einem Text-Marker zeigt sehr schnell, was möglich ist und was nicht.

    Nur, wer sich mit Gewalt nicht beschäftigt, ist bei einem Angriff völlig überfordert.
    Daher den Artikel lesen, sich damit beschäftigen.

    1. Hallo Gerhard und danke (wieder mal) für einen tollen und ausführlichen Kommentar!

      Was Verteidigung gegen Messerangriffe angeht, so benutze ich gerne dieses Beispiel:

      Ob du es glaubst oder nicht, aber selbst heute gibt es noch (bekannte) Karateka und Autoren, die völlig unmöglichen Unsinn unterrichten, der potentiell fatale Folgen haben kann.

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