Es gibt da diese Vorstellung von einem alten Kampfkunst-Meister (natürlich ein Mann*, vorzugsweise asiatisch und mit weißem Bart), der den höchsten moralischen Idealen entspricht: Er handelt immer korrekt und liebevoll, trinkt nie Alkohol, lebt alleine, hat kein Interesse an Frauen und Sex allgemein, ist seiner Kunst voll und ganz ergeben usw.
BULLSHIT, wenn du mich fragst.
Lass mich bitte auch hier wieder mit Hilfe der Psychologie erklären. Dabei warne ich gleich vor, dass ich vieles stark zusammenfassen werde. Wenn du mehr Details zu den hier angesprochenen Themen wissen möchtest, empfehle ich dir die entsprechende Literatur (oder hier) durchzulesen.
INHALTSVERZEICHNIS
Die Bildung der Persönlichkeit . . .
Ich beginne ganz am Anfang: Wenn Kinder klein sind, sind sie hilflos und auf ihre Eltern angewiesen. Die Natur hat es so vorgesehen, dass sie von den Eltern das Wichtigste lernen müssen und damit das so glatt wie möglich abläuft, idealisieren sie ihre Eltern und glauben, dass diese immer Recht haben und alles wissen.
Natürlich gibt es auch die sogenannte „Trotzphase“ (2.-3. Lebensjahr), in der sich beim Kind das Ego bildet. In dieser Phase probieren Kinder ihre Grenzen aus und lernen „nein“ zu sagen. Das ist eine sehr wichtige Phase, die mit Erfolg abgeschlossen werden sollte. Danach werden die meisten Kinder wieder „artig“ (relativ), so etwa bis sie das Teenagealter erreichen, denn dann beginnt Trotzphase II (von insgesamt drei). Die Kinder erkennen zunehmend an, dass ihre Eltern gar nicht so perfekt sind wie sie bisher dachten: Auch sie machen Fehler und wissen nicht alles. In dieser Phase spielt die Psyche einen Trick und das Kind glaubt, die Eltern wüssten gar nichts und könnten nichts. Was genauso wenig stimmt wie der Gedanke sie könnten alles. In einem ZEIT-Wissen-Magazin las ich mal, dass der geistige Zustand von Teenagern dem eines an Schizophrenie erkrankten Menschen ähneln soll**.
Der Glaube an die eigene Richtigkeit, wenn auch in übertriebener und unrealistischer Form, wird hier weiter gebildet. Teenager entdecken nun, dass sie nicht nur trotzen, sondern auch für sich handeln können. In dieser Zeit werden neue Freundschaften geschlossen, viele Cliquen gebildet und weitere, weitaus riskantere, Grenzen ausprobiert.
Das ist der nächste wichtige Schritt zur Selbstständigkeit und natürlich sollte auch er mit Erfolg abgeschlossen werden, sonst gibt es unerwünschte Nebenwirkungen.
Was hat das Ganze mit dieser Vorstellung des Meisters der Kampfkünste zu tun? Alles! Aber dazu komme ich gleich… patience, young Padawan. 😉
Die Trotzphase III sollte eintreten, wenn man das Elternhaus verlässt und die große weite Welt entdeckt, mit all der Vielfalt, Freiheit und Verantwortung. In dieser Zeit begreift man, dass die Eltern bezüglich vieler Dinge wirklich keine Ahnung haben (bzw. doch einiges mehr wissen als man dachte) UND dass das vollkommen in Ordnung ist, denn kein Mensch ist perfekt und man muss es auch selbst nicht sein. Hier findet man Versöhnung und Frieden mit den Eltern und folglich den eigenen Schattenseiten (vgl. C. G. Jung) und Imperfektionen.
. . . kann oft schief gehen
An dieser Stelle sollte betont werden, dass ich hier den Idealfall beschreibe, der in unserer Zeit und Gesellschaft leider nur selten eintritt. In mindestens einer der Phasen geht meistens etwas schief und das hat unterschiedliche Folgen. Hier sind nur einige Beispiele:
- Lernt das Kleinkind mit drei Jahren nicht „nein!“ zu sagen, weil die Eltern übertrieben dominant sind und „sich so ein Verhalten nicht gefallen lassen“ (oft weil sie selbst von ihren Eltern dominiert wurden), so kann es zur Folge haben, dass das Kind sich zuerst auf dem Schulhof von den kleinen Bullys und später auf der Arbeit von den Vorgesetzten alles gefallen lassen – sie projizieren die Übermacht der Eltern auf jeden, der scheinbar über ihnen steht, und lassen sich leicht einschüchtern.
- Lernt der Teenager nicht, dass die Eltern auch Fehler machen und lernt nicht eigene Fehler zu machen, z. B. weil die Eltern wieder zu dominant und perfektionistisch sind und den selben pathologischen Perfektionismus von ihren Kindern fordern, so kann sich eine gewaltige und irrationale Angst vor Fehlern bilden, sowie der Glaube, dass die Eltern/Vorgesetzten/Vorbilder immer alles richtig machen. Hier kommen wir dem eigentlichen Thema schon näher…
- Lernt der junge Erwachsene nicht zu akzeptieren, dass das Leben nicht in schwarz und weiß gefärbt werden kann und die Welt viel komplizierter ist als man es früher geglaubt hat, so bilden sich unrealistische Erwartungen an sich und andere Menschen. Man bekommt ein falsches Weltbild und mit so einer Voraussetzung ist es wirklich schwer glücklich alt zu werden.
Wie gesagt, das ist sehr vereinfacht und verallgemeinert, ist aber doch recht häufig zu beobachten.
Einfluss auf Karate
Was ich nun schreibe, basiert komplett auf eigenen Vermutungen und es sollte sich niemand direkt angesprochen fühlen. Wenn du dich dennoch angesprochen fühlst und, vor allem, wenn du beleidigt bist, dann bist du selber verantwortlich dafür.
„Wie soll dein Spiegel blank poliert werden,
wenn du von jedem Reiben irritiert bist?“
– Rumi
Viele Kampfkünstler erwarten, dass der Meister sich wie ein Heiliger verhält, doch das ist gar nicht möglich. Die Idee von einem Heiligen, oder der Perfektion, ist im Kern unrealistisch. Sie soll nur als Wegweiser dienen, als Inspiration aber nicht als wirkliches Ziel. Menschen, die nie verinnerlicht hatten, dass ihre Eltern nicht perfekt sind, projizieren diese Wunschvorstellung auf andere Vorgesetzte/Mentoren/Politiker/“Gott“…
Wer nun diesem Ideal entsprechen möchte, widerstrebt oft der eigenen Natur, denn die Imperfektion ist ein Teil von uns. Man kann sich anstrengen wie man möchte, aber am Ende bleibt man immer fehlerbehaftet und selbst wenn nach außen alles perfekt erscheint und die Schüler einen über alles respektieren, so ist das nur Schein und man betrügt nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst.
Man sollte zuerst die eigenen Fehler und dann die Fehler anderer akzeptieren (das ist nur in dieser Reihenfolge möglich). Leichter gesagt als getan, aber es ist möglich und bedarf der Selbstreflexion, viel Mühe, Zeit und Geduld.
Ich weiß, ich habe ziemlich weit ausgeholt, aber wer sagt denn, dass diese Themen nichts miteinander zu tun haben, nur weil sie kompliziert sind? Das Leben ist kompliziert! Der Mensch ist kompliziert. Karate ist eine von Menschen geschaffene Bewegungskunst und unterliegt den selben Regeln und Prinzipien, wie jede andere Kunstform. Auch hier spielt die Psychologie eine wichtige Rolle. Gefühl und Ausdruck, Projektionen, Angst… all das ist enthalten, also darf und sollte man sich hier den ein oder anderen Crossover mit der Psychologie erlauben.
Der Meister ist und muss nicht perfekt sein. Und was ist schon Perfektion, wenn nicht nur ein Ideal, das sich in Abhängigkeit vom Zeitgeist flexibel verändert?
Was heute als perfekt angesehen wird, war nicht perfekt vor 100 Jahren. Einige der alten okinawanischen und japanischen Meister waren Nationalisten und in ihrer Zeit, ihrem Kulturkreis, war das normal! Heute können wir uns, vor allem in Deutschland, nicht vorstellen wie diese „heiligen“ Männer die ein oder andere Sache gesagt oder getan haben konnten.
Beispiele aus den Leben berühmter Meister
Ich werde nun drei Beispiele nennen, in den alte und geachtete Meister offensichtlich keinem moralischen Ideal der heutigen Zeit entsprachen. Ich mache das, um dieses unrealistische Bild von ihnen endgültig zu zerstören und sie als die Menschen darzustellen, die sie waren, mit den guten und schlechten Seiten:
- Anko Itosu: Mabuni Kenwa, ein direkter Schüler von Itosu und Begründer des Shito-ryu Karatedo, lernte die Kata Naihanchi von einem alten Experten namens Matayoshi Seihaku. Als er diese Kata seinem Lehrer Itosu zeigte, sagte dieser zu Mabuni, dass dies die alte Version der Kata sei. Itosu habe die Kata erforscht und „verbessert“ und Mabuni sollte besser seine Version üben (Swift 2004: 8). Abgesehen davon, dass Itosus Lehrer, der große Matsumura, nichts von seiner Naihanchi hielt (Motobu 1932: 89), ist es doch ganz schön verantwortungslos zu behaupten, man soll eine ältere Version der Kata wegen einer Neueren verwerfen, zumal die Naihanchi von Itosu rein für Fitnesszwecke verändert wurde (Tokitsu 2003: 46).
- Gichin Funakoshi: Als Funakoshi gerade erst sein Dojo in Tokio eröffnete, verbrachte sein Schüler, der junge Taira Shinken, jede freie Minute bei ihm, bereitete sein Essen zu und kümmerte sich um seine Wäsche. Eines sehr warmen Nachmittags, als das Dojo leer war, machte Gichin ein Nickerchen, mitten in der Halle und auf dem Boden ausgebreitet. Als Taira von einer der Besorgungen zurückkehrte, war er überrascht darüber, was er sah, kehrte sofort um und ging in einen Laden, um für seinen Lehrer Unterwäsche zu besorgen. Als er diese Gichin anbot, wurde er streng angefahren: „Erwartest du tatsächlich von einem Aristokraten einen derartigen Lendenschurz zu tragen?! Du Idiot! Diese sind nur für’s einfache Volk!“
Funakoshi genoss tatsächlich die Kühle des Bodens und lag mit einem aufgerollten Kimono da, obwohl man alles sehen konnte (Swift 2004: 13).
- Kyan Chotoku: Laut Katsumi Murakami, unterichtete Kyan seine Schüler Ankichi Arakaki und Taro Shimabuku nicht nur in Bordellen, er ermutigte sie auch dazu ordentlich Alkohol zu trinken. Er war ein großer Freund von Hahnenkämpfen und log seine Frau bezüglich seiner Einkünfte an, um sich von dem Geld Prostituierte und Reisen leisten zu können.
Fazit
Trotz ihrer Verfehlungen, waren diese Lehrer herausragende Karateka und hatten einen großen Einfluss auf die Entwicklung des Karate. Dass sie nicht perfekt waren soll ihren Verdiensten nicht im Weg stehen, sondern zeigen, dass sie keine heilige waren und auch nicht als solche behandelt werden sollten. Niemand ist heilig, auch ich nicht und auch du nicht (und du weißt es). Hör damit auf dich an unrealistischen Idealen zu messen und dich dafür fertig zu machen, weil du sie nie erreichst. Akzeptiere deine Schattenseiten und sei glücklich. Habe Spaß an deiner Kampfkunst und nimm dich nicht zu ernst, mein Freund. 🙂
* „Natürlich“, weil das typisch für die Projektion der Vaterfigur (des Vaterersatzes) ist. Das macht man als unreife Frau oft beim Partner und als unreifer Mann bei allen Männern, die über einem stehen, so auch bei dem idolisierten Lehrer.
** Schizophrenie ist, entgegen eines weit verbreiteten Irrglaubens, nicht wenn man glaubt mehrere Personen auf einmal zu sein – das nennt man nämlich dissoziative Identitätsstörung, bzw. multiple Persönlichkeitsstörung. Schizophrenie ist, vereinfacht, so etwas wie eine sehr falsche Vorstellung von der Welt, während man absolut davon überzeugt ist, dass man es richtig sieht.
Hallo Philipp
was soll ich sagen, wieder ein sehr guter Aufsatz von Dir.
Viele Punkte über die Entwicklungsphasen des Menschen werden in kurzen Worten verständlich erläutert. Was ich lese, kommt mir bekannt vor.
Die Erziehung der Kinder ist ein sehr wichtiger Lebensabschnitt nicht nur für die Kinder sondern auch für die Eltern.
Dieser Lebensabschnitt ist die Grundlage für viele Entscheidungen in unserem Leben.
Vieles wird verständlicher, wenn ich mir meine Erziehung, meine Erfahrungen und Erlebnisse aus dieser Sichtweise ansehe.
Der Kampfsport-Lehrer/in bringt mir die ersten Schritte auf diesem neuen Weg bei.
Dafür sollte ich dankbar sein und nach einiger Zeit des Lernens überdenken, bin ich mit diesem Lehrer auf dem richtigen Weg für mich.
Das fällt mir leichter, wenn ich – wie Du angemerkt hast- in meiner Kindheit gelernt habe,
meinen Eltern zu vertrauen aber auch erkannt habe, sie sind nicht vollkommen.
Daher werde ich auch in meinem Leben Fehler machen.
Finde ich einen Kampfsport-Lehrer mit dem ich eine Strecke des Weges gehen kann,
dann sollte es mir bewusst sein, auch er ist nicht vollkommen.
Genau wie ich.
Daher mit offenen Augen durchs Leben gehen.
Ab und zu bekommt man einen Hinweis, der die eigene Gedankenwelt verändert.
Kann ein Buch sein, ein Aufsatz wie dieser, die Liebe einer Frau,
nur offen sollte ich sein für neue Gedanken.
Danke für den Aufsatz, den ich mir ausgedruckt habe.
Lieber Gerhard,
deine Worte erfüllten mich mit Stolz und Freude! Ich freue mich sehr, dass ich mit diesem Artikel etwas vermitteln und wachrütteln konnte. Letztendlich erzähle ich oftmals nur meine eigene Geschichte. Der Grund, warum ich diese Dinge verstehe ist, weil ich mich und meine Probleme verstehen wollte. Weil ich mich mit diesen Themen beschäftigt habe, begann ich Menschen so zu sehen wie sie sind. Das machte mir das Leben um vieles einfacher. Man könnte sagen, dass ich die im Artikel beschriebenen Entwicklungsstufen, welche bei mir nicht immer korrekt verliefen, später aufholen und verarbeiten durfte. Das ist möglich und niemand sollte die Hoffnung, oder die Arbeit aufgeben. 🙂
Hallo Philipp
ich lese Deine Artikel gerne, da Du wirklich was zu erzählen hast, was wichtig ist.
Vieles aus Deinen Geschichten kommen mir bekannt vor- vieles habe ich selbst erfahren und durchleben dürfen.
Einen Meister – wie Du ihn beschreibst – habe ich leider im Dojo oder Dojang nie erleben dürfen.
Obwohl ich zugeben muß, aus den Büchern von Seo Yoon-nam , Taekwondo habe ich viele
gute Hinweise erhalten.
Keine Trainings-Bücher sondern Anleitungen zu einem erfüllten Leben –
viele Stretching- Fotos , Geschichten aus Korea, sogar Training für den Beckenboden…
daher lese ich dieses Buch immer wieder und versuche mich mit den Übungen und den
Hinweisen mein Leben anders zu gestalten.
“ Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt “
Buch : Seo Yoon-nam .Lachend den Berg besteigen, Mosaik bei Goldmann
bedanke mich für Deine Aufsätze, die alle lesenswert sind.
Danke