Im „modernen Karate“ wird die Wichtigkeit des Hüfteinsatzes unermüdlich betont. Das ist nicht zufällig so, denn die „Hüfte“, bzw. Hüften (da es sich um zwei Gelenkstrukturen handelt) sind tatsächlich wichtig. Leider beschränkt sich die Lehre ihres Einsatzes häufig auf das Äußerliche, nämlich das, was fotografisch festgehalten werden kann. Somit wird die Lehre ihrer Essenz beraubt und Generationen an Karateka bekommen durch die stille Post nur eine minderwertige Technik übermittelt.
INHALTSVERZEICHNIS
Koshi, Hara, Hüften, Becken, Rückgrat… eh??
Im japanischen wird für das, was im deutschen „Hüfte“ heißt, der Begriff Koshi verwendet. Damit ist der gesamte Hüftbereich gemeint, also die Hüftgelenke, der untere Teil der Wirbelsäule, der obere Teil der Oberschenkel, sowie die Innenmuskulatur (vgl. hier). Außerdem verwendet man das Wort auch, wenn man sagen möchte, dass jemandem der Mut zu etwas fehlt, diese Person also „ohne Rückgrat“ ist. In diesem Wortspiel steckt ein fundamentales Prinzip: Das Rückgrat ist der Inbegriff für Stabilität, Struktur, Standhaftigkeit, Aufrichtigkeit.
In der japanischen Kultur scheint dafür der gesamte Bereich des Koshi verantwortlich zu sein. Nicht umsonst spricht man auch vom Hara als „Sitz der Seele“, und selbst dieser ist nur Teil des Koshi. Mythen sind nicht einfach nur Märchen, sie basieren auf fundamentalen Wahrheiten, oft verborgen hinter veralteter Symbolik. Aber man muss nicht alle Symbole richtig deuten, um zu verstehen: Das ist wichtig.
Ich versuche es etwas vereinfacht umzuschreiben: Koshi ist die Verbindung zwischen Unter- und Oberkörper. Es ist ein wichtiges Bindeglied für die Ausrichtung (engl. alignment) und die Stabilität des Körpers. Es sind nicht nur die Hüftgelenke, nur die Lendenwirbelsäule, nur der Beckenknochen oder die Innenmuskulatur (sog. core-muscles), sondern alles zusammen und man sollte lernen diese Strukturen als eine Einheit zu beherrschen. Warum? Ohne korrekte Ausrichtung gibt es keine sichere Technik, keine ausreichende Kraftübertragung. Impulse gehen verloren, Gelenkstrukturen werden geschädigt, Muskeln überbeansprucht…
Wer glaubt, dass ich übertreibe, sollte mal einen Blick auf den typischen Shotokan-Karateka unserer Zeit werfen: Einerseits wird von ihm ein übertrieben langer Stand verlangt, gleichzeitig aber auch ein geradeaus nach oben ausgerichteter Oberkörper.
Das geht einfach nicht ohne dabei ins Hohlkreuz zu gehen. Richtig wäre es bei einem langen Stand eine Vorlage des Oberkörpers zu haben, was aber im modernen, versportlichten und auf eine ganz bestimmte Ästhetik ausgerichteten Shotokan unvorstellbar wäre.
Betrachten wir mal einen geraden Fauststoß. Stell dir vor dein Körper ist eine Säule, die sich zum Ziel hin bewegen soll. Ober. und Unterkörper werden durch Koshi verbunden und in einer Linie stabil gehalten. Die Struktur gleicht einer Linie, einer dicken Linie, einer Säule. Gibt man im Koshi nach und lässt den Unterkörper vor dem Oberkörper nach vorne schnellen, kippt das Becken nach vorne und es bildet sich ein Hohlkreuz. Der Oberkörper neigt sich nach hinten und jeglicher Angriff mit den Armen ist nutzlos, da die gesamte Energie nach hinten verpufft. Wie Russ Smith in seinem Buch „Principle-Driven Skill Development“ schreibt:
„Das aufrechte Stehen richtet die menschliche Körperstruktur nicht in Richtung des nötigen Krafteinsatzes aus“ (Smith: 2017, S. 160, übers. v. mir)
Ist der Oberkörper schneller als der Unterkörper, führt das zu einem Rundrücken, wobei die Energie auch hier wieder nach hinten verpufft. In diesem Fall fehlt der Kontakt zum Boden. Das Ganze wird natürlich viel verständlicher, wenn man es ausprobiert und fühlt. Also: Aufstehen und langsam nachmachen! Lasse dabei die Becken- und Bauchmuskulatur komplett entspannt.
Hältst du aber den Ober- und den Unterkörper durch Koshi verbunden in einer Linie, wird eine sichere Energieübertragung gewährleistet und von hier aus kannst du auch mit Chinkuchi und Co. arbeiten. Ohne Koshi erhält man zwei voneinander unabhängig schwabbelnde Strukturen, ohne Kontrolle, ohne Kraftübertragung. So eine Bewegung mag auf einem Foto ganz OK aussehen, wird aber in einer realen Anwendung völlig unbrauchbar sein.
Hyperlordose und Donald Ducks Hintern
Um eine gute Verbindung durch Koshi zu erhalten, muss das Becken in einer ausbalancierten Position sein. In einem Wort: Gerade. Heutzutage laufen aber viele Menschen mit einer Hyperlordose im Bereich der Lendenwirbelsäule herum, d.h. einem heraus stehenden Hintern, einer ungünstigen Kippung des Beckens durch eine übertriebene Beugung der Lendenwirbelsäule. Eine solche muskuläre Dysbalance entsteht durch ein Zusammenspiel mehrerer Dysfunktionen: Einer Übertonisierung der unteren Rückenmuskulatur und der vorderen Oberschenkelmuskulatur, sowie einer zu schwach ausgeprägten Muskulatur im unteren Bauchbereich und der ischiocruralen Muskulatur (auch bekannt als Hamstrings). Ein angepasstes Krafttraining sollte das Problem beseitigen, doch viele wissen noch nicht ein mal, dass sie ein Problem haben. Die Rückenschmerzen am Abend, wenn man schlafen geht, werden als normal betrachtet und als wäre das nicht genug, wird eine solche Dysbalance durch die Medien als etwas Positives dargestellt.
Wie
Früher war es Donald Duck, heute sind es u. a. die Mädels von Monster High School, die gerade den jungen Mädchen vermitteln, es sei schön den Hintern heraus zu strecken. Natürlich begünstigen solche Haltungen die Hyperlordose und spätestens während der Schwangerschaft bekommen Frauen echte Probleme.
Doch selbst wenn man unter einer Hyperlordose leidet und dennoch eine ordentliche Stabilität und Kraftübertragung gewährleisten möchte, gibt es einen Trick: Wenn du im Zenkutsu-Dachi stehst (am besten nicht zu tief), stell dir vor, dass an deinem Steißbein ein Faden befestigt ist, der diagonal in Richtung Boden vor dir verläuft. Dieser Faden zieht nun dein Steißbein ganz leicht nach vorne. Durch diese Vorstellung bringst du dein Becken in eine günstigere Position. Doch auch das ist nur eine vorübergehende Notlösung. Optimal wäre es die Hyperlordose durch ein entsprechendes Muskeltraining und eine Anpassung der Lebensgewohnheiten zu beseitigen.
Spannung/Entspannung
Wenn ich von Stabilität rede, meine ich sicherlich keine dauerhaft angespannte Muskulatur. Wenn Koshi den Unterkörper mit dem Oberkörper verbindet, steht die Becken-, Bauch- und Beinmuskulatur nicht unter dauerhafter Spannung. Viel mehr befindet sich das Becken in einer an den Unter- und Oberkörper angepassten Position, jedoch bleibt man überwiegend entspannt. Wenn die Muskulatur nicht ausbalanciert ist, also nicht richtig trainiert, dann ist eine solche Haltung nur schwer aufrecht zu erhalten, ohne ständig Kraft beizusteuern. Das heißt, dass man zunächst die entsprechenden Muskeln trainieren sollte, um bestehende Dysbalancen zu beseitigen, sodass eine korrekte Haltung ganz natürlich eingenommen werden kann. Mit Muskeltraining meine ich übrigens keine Vergrößerung des Muskelumfanges, sondern eine Erhöhung des Muskeltonus. Wobei eine Vergrößerung der Masse auch nicht unbedingt etwas schlechtes ist. Jedem das Seine, aber bitte mit Köpfchen.
Für die Aufrechterhaltung des Muskeltonus sind Titin-Filamente zuständig. Das Titin ist ein Eiweiß, das u.a. dafür sorgt, dass der Muskel nach der Dehnung wieder in die Ausgangsposition gelangt. Je größer der Muskelfaserquerschnitt, desto höher die Anzahl an Titin-Filamenten und umso höher der Muskeltonus. Ein hoher Muskeltonus kann einerseits dafür sorgen, dass der Muskel die Knochen in der richtigen Position behält, andererseits geht das auch andersherum und kann nachteilig sein. Manche Muskeln brauchen einen weniger hohen Muskeltonus als dieser, bedingt durch eine ungünstige Lebensweise, vorliegen könnte. Eine Hyperlordose ist ein Zusammenspiel aus zu niedrigen und zu hohen Muskeltoni verschiedener Partien. Dehntraining alleine hilft da nicht zu sehr, da wird man mehr mit dem Krafttraining der hypotonisierten (unter dem nötigen Niveau) Muskeln erreichen (Klee/Wiemann: 2005).
Ich bin ganz bestimmt kein Befürworter der ständigen Anspannung. Wie sollte man denn die vielfältigen Bewegungen machen, die z.B. Ido Portal unterrichtet, wenn man unter Spannung steht? Es wäre unmöglich dabei die nötige Beweglichkeit zu erhalten. Deshalb muss man eine individuelle Balance zwischen Spannung und Entspannung finden. Beim Vorschreiten und Stoßen, also der Kraftgenerierung und Kraftübertragung, ist eine „Säule“ notwendig, beim Ausweichen sollte man fließend sein, wie Wasser. Es ist also niemals nur das eine oder das andere. Ständige Abwechslung, Flexibilität, Beweglichkeit, Anpassungsfähigkeit… Das ist Budo!
Erst heute durfte ich bei dem freien Training am Sportinstitut einem Bekannten erklären, warum man bei Tritten nach vorne eine Säule bilden sollte. Er machte nämlich den typischen Shotokan-Mae-Geri: Einen speerartigen Tritt, bei dem der Unterkörper vom Oberkörper im Bereich des Beckens getrennt wird. Seine Beine schnellten nach vorne, der Oberkörper nach hinten. Das Resultat war ein schwacher Tritt, ohne guter Impulsweitergabe. Ich hielt den Boxsack fest und konnte fühlen wie viel Energie abgegeben wurde und bei seiner Masse und Erfahrung war das eindeutig zu wenig. Außerdem hatte mein Bekannter stets den Drang dazu das Bein nach dem Tritt wieder hinten abzusetzen, typisch für das klassische JKA-Kihon. Als ich ihn dazu aufforderte den Tritt wie einen Schritt nach vorne in das Ziel hinein zu machen, ohne hinten abzusetzen und ohne den Oberkörper nach hinten zu neigen, konnte ich mehr Kraft in dem Tritt spüren.
Diesmal diente das Becken nicht als Trennlinie, sondern als Bindeglied zwischen Unter- und Oberkörper.
In meiner Auseinandersetzung mit Tritttechniken hatte ich bereits darüber geschrieben, dass man bei den Tritten das Becken möglichst nicht kippen sollte. Die bisher effektivste Tritttechnik nach vorne ist für mich der geschwungene Kin Geri, wobei die Trefferfläche nicht der Fußrücken, sondern der Fußballen ist, wie beim Mae Geri. Es handelt sich hierbei nicht um einen speerartigen Mae Geri, bei dem die Beckenmuskulatur verspannt ist und den Oberkörper vom Unterkörper isoliert, sondern um einen Tritt, der den ganzen Körper weitestgehend entspannt einsetzt. Natürlich könnte auch der Speerartige Mae Geri effektiver ausgeführt werden und ein guter Tritt sein, doch dafür sollte das Becken nicht in die Hohlkreuzposition (der Lendenwirbelsäule) gekippt und nicht zu sehr angespannt werden.
Ich könnte noch viel mehr über Koshi schreiben, z.B. über den gezielten (bewussten) Einsatz der Hüftbeugemuskulatur, oder die Funktion von einer Achse (Ichijuku) vs. zwei Achsen (Nijuku), aber das würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Vielleicht schreibe ich ein anderes Mal mehr darüber. Jetzt hoffe ich erstmal, dass die gegebene Information zum Nachdenken und, wenn es sein muss, zum Umlernen anregt.
Hi Philipp,
danke, für Deine Ausführung. Erst gestern hat mich mein Trainer wieder auf die Problematik bei mir hingewiesen. Ober- und Unterkörper agieren getrennt voneinander. Ich setze meine Hüfte nicht richtig ein, schiebe diese zur Seite raus ect. Ist schon bemerkenswert, wie viele falsche Bewegungsabläufe man haben kann 😀 Ich denke, mit dem erweiterten Wissen, werde ich in die richtige Spur kommen.
Viele Grüße
Dana
Hey Dana,
es freut mich sehr, dass der Artikel dir geholfen hat! Prinzipiell solltest du nur beachten, dass du die Hüften nirgendwo zwanghaft hin bewegst, sondern die Beine weitestgehend entspannt schwingen lässt. Aktiviere all die Kernmuskulatur (Bauch, Rücken), gehe mit der Kraft, aber überspanne nicht die Becken- und Beinmuskulatur. Das ist ähnlich wie beim Schlagen, wo die Muskeln erst beim Auftreffen im Ziel angespannt werden, um die nötige strukturelle Stabilität (im Bein/Arm) zu erzeugen, ohne aber die Bewegung zu verlangsamen oder unnötige Körperbereiche zu aktivieren.
Und ich freue mich für dich, dass du einen Trainer hast, der dich auf solche Dinge hinweisen kann. Das ist viel wert!
Viele Grüße
Philipp