Die Geheimnisse Okinawas, Teil 1

„Auf Okinawa wurden die Lehren im Dunkeln der Nacht und nur an die auserwählten Schüler weitergegeben, denn manche Techniken waren so tödlich, dass es zu gefährlich war sie an die breite Öffentlichkeit zu bringen.“

Aussagen wie diese klingen romantisch und spannend. Haufenweise Romane, Mangas und Animes basieren auf ähnlichen Vorstellungen, doch die Realität ist kein Kung-Fu-Film und alle Kampfkünstler müssen früher oder später lernen Fakten und Fiktion klar zu unterscheiden.

(Un)sinn in den Medien

Manchmal stolpere ich über Videos, in den alte und respektierte okinawanische „Karate-Meister“ Anwendungen aus Kata zeigen, die der Fantasie eines Kindes ohne jeglicher Kampferfahrung entsprungen sein könnten. Erst neulich gab es so einen Vorfall: Jemand hatte in einer Diskussions-Gruppe auf Facebook eine relativ neue Doku von der NHK gepostet, in der das okinawanische Karate präsentiert wird. Ich hatte bis zur 11. Minute geschaut und konnte nicht mehr, weil es mir zuwider wurde. Dazu schrieb ich einen langen Kommentar mit all dem, was ich daran auszusetzen hatte. Unter diesen Punkten war die Demonstration einiger Anwendungen aus der Kata Kusanku von Zenpo Shimabukuro persönlich. Für mich unterschieden sich diese Anwendungen in ihrer Realitätsnähe nicht allzu sehr von den Anwendungen der JKA aus den 80-ern.

Natürlich meldete sich sofort jemand zu Wort, dem es schwer fiel die (berechtigte) Kritik an einen derart hoch angesehenen Meister hinzunehmen und suchte nach Argumenten, die diese Art der Anwendungen rechtfertigen würden. Er meinte, dies sei Teil der Geheimhaltung okinawanischer Meister

Uns sind ja die vielen Geschichten über die Geheimhaltung von Karate als ganzes, aber auch innerhalb von einzelnen Richtungen bekannt. Auch du hast sicherlich von Karatemeistern gehört, die ihre Lehre streng geheim hielten und nur an die engsten auserwählen Schüler (uchi-deshi) weiter gaben. Den anderen Schülern wurde etwas anderes erzählt und gezeigt und wenn die uchi-deshi mit der Verbreitung der „wahren“ Lehre nicht erfolgreich waren, so wurde der Quatsch der nicht eingeweihten (aber im Marketing-Bereich erfolgreicheren) Schüler popularisiert, oder aber „die Wahrheit“ ging einfach verloren. So wurden auch Shimabukuros Techniken als eine Art „Fassade-Techniken“ gerechtfertigt, die nur für das Fernsehen gelten und selbst wenn das tatsächlich der Fall sein soll, halte ich es dennoch für eine Schweinerei.

Wir leben im Zeitalter des Internets, der raschen Informationsverbreitung, in der an einem Tag mehr Information generiert und geteilt wird, als in den gesamten letzten 10000 Jahren. Wir leben in einer Zeit, wo Menschen Videos auf YouTube hochladen, in den sie über ihre persönlichen Gefühlszustände reden und anderen zeigen wollen, dass diese nicht allein sind. Ebenso kann man auf YouTube und anderen Videohosting-Seiten Anleitungen für so ziemlich alles finden, vom Abflussrohrwechsel, bis hin zur Deckenleuchteninstallation und Traumfängerbau. Auch im Bereich der Kampfkünste gibt es zahlreiche Videos, die viele einzelne Aspekte, teilweise bis ins kleinste Detail, erklären. Ist das wirklich noch die Zeit für Geheimhaltung? Ganz bestimmt nicht! Sollten diese „Meister“ tatsächlich etwas geheim halten, dann müssen sie mit der Zeit gehen und öffentlich authentischer unterrichten, oder gar nicht erst öffentlich auftreten. Solche Demonstrationen wie in der o.g. Doku führen nur dazu, dass die Öffentlichkeit entweder ein falsches Bild von Selbstverteidigung, oder davon, was Karate sein kann, bekommt.

„Papagei-Do“

Nehmen wir als Beispiel wieder Zenpo Shimabukuro. Übrigens habe ich es nicht auf ihn abgesehen, warum denn auch? Ich kenne ihn nicht persönlich und war bisher noch nie auf Okinawa. Es kam nur so, dass ich diese Doku sah und er dort besonders hervor trat, doch eigentlich steht er mit dieser Art des Unterrichtes bei weitem nicht alleine da, was offensichtlich wird, wenn man Mark Bishops Buch Okinawan Karate liest. In diesem Buch steht im Abschnitt über Shimabukuro, dass er offen über Nagamine Shoshin meckert, da dieser neue und ungewohnte Methoden ausprobiert, um Einnahmen zu erzeugen. Gleichzeitig beschwert er sich darüber, dass Schüler sein Dojo verlassen. Seiner Meinung nach, zerstören viele junge Lehrer mit ihren Trends das gute alte „traditionelle“ okinawanische Karate (Bishop 1999: 82f.).

Bitte? Welches traditionelle Karate, wenn die gezeigten Anwendungen offensichtlich Unsinn sind? In der Doku wird gesagt, dass das okinawanische Karate sich, im Kontrast zum Sportkarate, auf die Selbstverteidigung konzentriert. SV soll also die Basis sein und nun kommt so ein 10. Dan an, meint er würde die Tradition weiter geben und erzählt einem dann folgendes:

„Die erste Bewegung in der Kusanku [Hände werden nach oben geführt] soll die Augen vor der Sonne, die sich hinter dem Gegner befindet, schützen. Dann führt man die Hände nach unten, um dem Gegner zu zeigen, dass man die Situation friedlich klären möchte.“

Jep, überzeuge dich selbst, wenn du es mir nicht glaubst!

Als ich in meinem Kommentar dies bemängelte, meinte jemand, Zenpo würde nur die Lehre seines Vaters weitergeben, der wiederum die Lehre seines Lehrers Chotoku Kyan weiter gab. Das sollte angeblich ein Gegenargument sein, doch für mich ist das ein Argument für meine Kritik.

Wer die Lehre blind weiter gibt, ohne mit der Zeit zu gehen und ohne seinen eigenen Kopf einzuschalten, tut weder sich, noch seinem Lehrer, noch der Lehre einen Gefallen.

Lehren leben davon, dass sie weitergegeben und weiterentwickelt werden. Nicht immer verläuft eine Entwicklung in die beste Richtung (siehe Wettkampfkata), aber im Großen und Ganzen werden viele Dinge mit der Zeit besser. Ich denke, dass Leute wie Zenpo Shimabukuro die Tradition als Vorwand nutzen, um selbst nicht nachdenken zu müssen. Nachplappern ist doch so viel einfacher! Genauso hatte mein erster Karatelehrer immer wieder gesagt „so habe ich es vom Japaner gelernt und so gebe ich das weiter“ und jeglicher Versuch etwas neues oder sinnvolleres rein zu bringen stieß auf starken Widerstand. Dabei gab er in einem persönlichen Gespräch zu, dass er meine Ideen zum Kiba-Dachi für richtig befindet: Er selber soll bereits zwei Knie-OPs hinter sich haben und es heute so machen wie ich es in meinem Artikel beschreibe. Trotzdem betonte er noch Jahre später im Unterricht, dass die Knie im Kiba-Dachi nach außen gedrückt werden sollen. So ein Verhalten ist, in meinen Augen, eines Lehrers nicht würdig. Der Lehrer war schon in der Vorzeit und sollte heute wieder einer der wichtigsten Berufe auf dieser Welt sein. Lass uns bitte ein bisschen mehr Mühe geben und das Niveau gemeinsam steigern.

Und bitte, verstehe mich nicht falsch: Nicht alles alte, das weitergegeben wird, muss notwendigerweise verändert werden. Dies ist nur dann sinnvoll, wenn das Alte den Anforderungen der neuen Zeit in keiner Weise mehr entspricht, also nutzlos geworden ist, oder von neuen Ideen überholt wurde. Als das Atom entdeckt wurde, war es ein großer Schritt in der Physik, doch der Entdecker, John Dalton, behauptete, dass das Atom das kleinste Teilchen sei, welches nicht weiter gespaltet werden kann. Heute wissen wir, dass er unrecht hatte und seine Theorie wurde weiterentwickelt. Niemand kam auf die Idee und sagte, dass es keine Atome gibt, nur weil man weiß, dass es noch kleinere Teilchen gibt. Nein. Die Idee wurde weiter entwickelt, weil es nötig war und so ist es auch mit vielen Dingen in Karate – aber nicht mit allen.

Wie soll man ehrlich sein und trotzdem nicht alles verraten?

Gegenargument: Diese Lehrer wollen die „wahren“ Inhalte ihrer Lehre geheim halten und dies nur den Schülern offenbaren, die Wille und Fleiß zeigen, in ihr Dojo kommen und natürlich dafür bezahlen.

Vergiss die romantischen Vorstellungen der „edlen“ Samurai-Lehrer, die Geld nicht überaus schätzen, denn auf Okinawa wird man durchaus einen ordentlichen Batzen Geld für das Training zahlen müssen. Das wird allerdings nicht in den Dokus erwähnt. Es ist prinzipiell auch nichts Schlechtes, nur die Art und Weise wie man seine Schule vermarktet kann sich drastisch unterscheiden.

Also: Die Verschleierung der „wahren“ Lehre durch Fassade-Techniken verschafft dem Lehrer einen gewissen finanziellen Vorteil, was seine Existenz durch Karateunterricht alleine ermöglichen soll. Klingt plausibel, auch wenn es in meinen Augen eher Anti-Werbung ist, denn da ich dies nun weiß, weiß ich auch, dass so ein Lehrer manipulativ ist. Ich würde einem derart unehrlichen und unreifen Menschen nicht mehr vertrauen und deshalb seine Schule meiden.

Aber wie sollte man es besser machen? Wie soll man im Zeitalter des Internets, wo man in wenigen Jahren online mehr für das Leben lernen kann, als in der gesamten Schulzeit, Schüler für das eigene Dojo gewinnen? Ich denke da an Lehrer wie z. B. Akira Hino oder die Jungs von Karate Culture (und es gibt noch viele andere). Sie laden Videomaterial auf ihren YouTube-Kanälen hoch, in den sie Einblicke in ihr Training gewährleisten und zwar so, wie es tatsächlich in ihrem Training abläuft, ganz ohne Lügen. Der Zuschauer kann sich bereits aus den Videos vieles abgucken und es selber nachmachen, wird aber feststellen, dass es doch besser wäre, wenn der Lehrer präsent ist, um zu korrigieren und auf Details hinzuweisen, die in den Videos nicht immer erklärt werden. Also treten diese Zuschauen entweder dem Dojo bei, oder fahren auf die Lehrgänge dieser Lehrer und so wird die Lehre weitergegeben, bleibt am Leben und gewährleistet dem Lehrer die nötige finanzielle Unterstützung, ganz ohne „Geheimnisse“.

Als Fazit möchte ich den Leser dazu aufrufen jegliche Geheimhaltungen „alter Meister“ nicht mehr zu romantisieren und gut zu heißen, sondern als das anzusehen, was es ist: Egoistisches Hintergehen. Damit möchte ich niemanden speziell schlecht machen, sondern zu einen offeneren Dialog anregen. Wir müssen mit der Zeit gehen und alles teilen, was wir wissen, und sei es auch für Geld auf Lehrgängen (schließlich muss die Arbeit angemessen belohnt werden!), aber nicht mit Lügen.

Im zweiten Teil des Artikels werde ich einen weit verbreiteten Mythos über die Geheimhaltung des Karate auflösen und erklären warum es unserer Kampfkunst mehr schadet als nützt, wenn wir die Idee der Geheimhaltung weiterhin verbreiten.

Danke, dass du den Artikel zu Ende gelesen hast!

Wenn du noch mehr Zusatz- und Hintergrundinfo möchtest, dann trage dich hier mit deiner E-Mail ein.

Deine Daten sind bei mir sicher und werden nicht an Dritte weitergegeben. Niemand mag Spam!

4 Kommentare, sei der nächste!

  1. Haha… ich habe die Doku auch gesehen und bei der Kanku-Dai „Anwendung“ dachte ich mir… Auweia… hat er selbst keine bessere Idee oder weiß er es gar nicht besser?! oder will er es nur nicht zeigen… So wie wohl einst Nakayama (JKA) der die schrecklichen „Bunkai“ Videos rausbrachte… mit einer Maßgabe der Öffentlichkeit und den „Fremden“ keine richtigen(?) Anwendungen zu zeigen…?

    1. Aus diesem Grund vertraue ich keinem „Meister“. Ich hatte gelesen, dass Übertreibungen im asiatischen Raum teilweise Teil der Kultur sind. Ich glaube, dass Nakayama (vergleichbar) wirklich nur ganz wenig drauf hatte und seine Rolle übertrieben wurde. Was zählt sind nicht die Worte, sondern die Taten und Nakayama hat mir bewiesen, dass er ein guter Geschäftsmann und Veranstalter war, mehr nicht.

        1. Da hast du leider recht. Aber ich mache mir nichts mehr daraus. Probleme gibt es überall und man hat die Wahl: Sich verbittert darüber aufregen, oder Klarheit gewinnen und mit einem Lächeln weiter gehen? Ich wähle die zweite Option 🙂

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.