Es gab auf Ryukyu niemals ein Waffenverbot

Es gibt eine amerikanische Fernseh-Show, die „Mythbusters“ heißt. Ich selber schaue die Show nicht, aber der Name klingt gut und lässt sich leicht merken. To bust a myth heißt „einen Mythos zerstören“ und genau das wird in der Show in Bezug auf städtische Mythen unternommen.

Die Idee inspirierte mich dazu eine Artikelkategorie zu erstellen, mit der ich das Ziel verfolge, etablierte Karatemythen zu zerstören. Dabei werde ich zwischen großen und kleinen Mythen variieren und mich sowohl streng wissenschaftlichen Quellen bedienen, als auch meine eigene Meinung dazu abgeben.

 

Der Mythos

1609 eroberte der Shimazu-Klan vom Satsuma das Inselreich Ryukyu (heute Okinawa) und setzte ein Waffenverbot durch, damit die ländliche Bevölkerung sich nicht gegen die herrschenden und unterdrückenden Samurai wehren könnten, weshalb diese eine waffenlose Kampfkunst entwickeln mussten.

In diesem Absatz sind gleich drei Mythen vorhanden und weil sie so oft zusammenhängend gebraucht werden, habe ich beschlossen sie gemeinsam aufzulösen.

 

1. Behauptung: Die Shimazu setzten ein Waffenverbot durch

Das ist ein großes Thema, denn auf der Annahme basieren viele weitere Mythen und romantische Geschichten. Es ist für einen träumerischen Karateka einfach schön sich vorzustellen, dass seine Kampfkunst dafür entwickelt wurde, um sich ohne Waffen gegen gepanzerte Samurai durchzusetzen. Nun, dies ist nicht so und es ist sogar gefährlich solche Geschichten weiterhin zu erzählen.

Tode (alter okinawanischer Name für Karate) war eine Kampfkunst, die zur körperlichen Ertüchtigung und Vorbereitung für den Kampf mit Waffen, bzw. als Notlösung diente. Es war wohl nie als alleinstehende Kampfkunst ganz ohne Waffen gedacht, denn Waffen waren bei Kriegern immer anwesend, schließlich übten überwiegend Krieger diese Kampfkunst aus und diese waren oftmals entweder als Botschafter oder Leibwächter von Fürsten eingestellt und mussten einiges können. Welcher Fürst würde schon einen Leibwächter einstellen, der keine Waffen trägt? Waffenbesitz war auch nach der Übernahme des Shimazu-Klans (aus Satsuma) Gang und Gebe unter den Leibwächtern. Dafür gibt es genug historische Beweise in Form von Bildern, Augenzeugenberichten und Statistiken.

Der König und seine Gefolgschaft. Man beachte die zahlreichen Schwerter, Hallebarden etc. Blockdruck aus dem 18. Jahrhundert.*

Wie kam es zu der Annahme, dass die Shimazu ein Waffenverbot durchsetzten? Dieser Gedanke hatte seinen Ursprung in der Fehlinterpretation eines Aushangs, der auf das Verbot vom verdächtigen und verschwörerischen Verhalten hinwies (Quast 2015: 68f.). So einfach geht das: Ein Historiker interpretiert etwas falsch und alle anderen ziehen nach. In der Geschichte ist es leider nicht so wie in Mathe, auch wenn beides Wissenschaften sind. Und selbst wenn jemand kommt und das Gegenteil beweist, dauert es erstmal eine Weile, bis diese neue Erkenntnis durchgesickert ist.

Selbst wenn solche Größen wie Mabuni Kenei über das Waffenverbot schreiben (Mabuni 2009: 34), heißt es nicht, dass es eine historische Tatsache ist. Viele Menschen neigen dazu Dinge einfach zu wiederholen, wenn nur genug Menschen daran glauben, ohne die Authentizität der Information überprüft zu haben. Mabuni war trotzdem ein Experte auf seinem Gebiet, nur kein Historiker. Deshalb sollte man filternd lesen, insbesondere wenn jemand seine ganze Philosophie auf solchen Mythen basiert.

Das gesamte Buch A Stroll Along Ryukyu Martial Arts History ist durchdrungen von Hinweisen darauf, dass es kein offizielles Waffenverbot seitens des Shimazu gab. Nicht nur durften die Wächter und Beamten privat Waffen besitzen (Quast 2015: 57), sie brauchten diese sogar auf den zahlreichen Seefahrten, um sich gegen Piratenübergriffe zu schützen. Einige Shimazu-Samurai hatten sogar Waffen an Okinawaner verliehen (Quast 2015: 65), da es auf Okinawa nur geringe Eisenvorkommen gab, die Herstellung von Stahlwaffen sich in dem Königreich als schwierig erwies und Waffen, die zu einem früheren Zeitpunkt gekauft wurden, entweder dem Alter, oder Piraten zum Opfer fielen.

Also nochmal im Klartext:

Es hat NIE ein offizielles Waffenverbot gegeben, das durch die Samurai des Shimazu-Klans durchgesetzt wurde.

Bestätigt wird das wieder in Hening Wittwers Buch Shotokan: überlieferte Texte ~ historische Untersuchungen, in dem er die Theorie von einem Herrn Sakihara Mitsuki aufgreift, die besagt, dass Ifa Fuyû, einem bekannter Sprachwissenschaftler, ein Fehler bei der Übersetzung der Inschrift von Shô Shins Monuments unterlaufen sein soll und daher die ganze Sache mit dem angeblichen Waffenverbot in den Umlauf gebracht wurde.

2. Behauptung: Karate wurde vom Bauernvolk ausgeübt

Stell dir vor: Du ackerst den ganzen Tag hart auf dem Feld, dir tut der ganze Körper weh, du kommst nach Hause und hast gerade noch so viel Kraft, um dich vor dem Feuer auszuruhen und vielleicht ein Tässchen Awamori zu trinken. Am nächsten Morgen geht es ganz früh wieder raus aufs Feld. Wer wird da noch Zeit haben die ganze Nacht durch zu trainieren? Für Karate brauchte man schon damals Zeit und auch Geld, welche sich das Bauernvolk in der Regel nicht erlauben konnte (Goodin 2001: 13).

Die Kampfkunst Tode war also reserviert für höhere Gesellschaftsschichten, wie z.B. „Bushi“ Matsumura Sokon, der als Leibwächter von insgesamt drei Königen diente und zu den bedeutendsten Begründern der Kampfkunst zählt. Auch Motobu Choki, Funakoshi Gichin und viele ihrer Lehrer hatten Vorfahren aus dem Adels-, bzw. Kriegerstand und genossen entsprechende Bevorzugungen u.a. in der Berufswahl. Das heißt natürlich nicht, dass absolut niemand aus dem „einfachen“ Volk Karate trainierte, bestimmt gab es einige unter ihnen, aber die Kampfkunst hatte ihre Wurzeln in höheren Schichten.

3. Behauptung: Karate wurde genutzt, um sich gegen die unterdrückenden Shimazu-Samurai zu wehren

Davon ausgehend, dass Karate nicht vom Bauernvolk ausgeübt wurde, kann man ebenso getrost sagen, dass die Regierung und die Beamten keinen Grund hatten sich gegen die Samurai zu wehren, denn obwohl diese 1609 das Inselkönigreich besetzten, ließen sie es als Königreich bestehen (bis 1879) und forderten es sogar dazu auf dessen Handelsbeziehungen zu China beizubehalten. Tatsächlich spielte der Shimazu-Klan eine Zwischenposten-Rolle im Handel zwischen China und Japan, während Japan von der restlichen Welt isoliert blieb, deshalb mussten die Beziehungen zwischen Ryukyu und China aufrecht erhalten werden und wann immer chinesische Botschafter zu Besuch kamen, zogen sich die Samurai zurück (Swift, 2003: 17).

Hinzu kommt Sai Ons Statement darüber, dass es vor der Shimazu-Übernahme zahlreiche Bürgerkriege und Revolutionen zwischen den drei Ryukyu-Königreichen gab, die nach der Übernahme aufhörten. Man könnte also sagen, dass der Shimazu-Klan mit seiner Streitmacht einen militärischen Schutz für das Inselkönigreich darstellte, während er gleichzeitig vom Handel mit China profitierte (Quast 2015: 99).

Selbst wenn Matsumora Kosaku eine Auseinandersetzung mit einem aggressiven Shimazu-Samurai gehabt und dabei einen seiner Finger verloren haben soll (Nagamine 2000: 32), heißt es nicht, dass das der Regelfall war. Insbesondere der romantische Ton von Nagamines Buch, in dem diese Geschichte beschrieben wird, sollte ein Hinweis darauf sein, dass nicht jedes Wort für bare Münze genommen werden sollte.

 


Ich hoffe, dass diese Informationen weiter verbreitet werden, denn Wissenschaft basiert darauf, dass man neue Erkenntnisse durchsetzt und alte, überholte Glaubenssätze vernachlässigt. In der Kategorie „Geschichte“ ist dieser Mechanismus leider noch sehr am hinken (im Gegensatz zur Physik, Biologie o.ä.) und alteingesessene Mythen sind schwer weg zu bekommen, aber je mehr Leute die Information verbreiten, desto höher ist die Aussicht auf Erfolg. Lasst uns gemeinsam gegen Desinformation und die damit verbundene Qualitätsminderung unserer Kampfkunst vorgehen!

 



*Diese Abbildung ist ein eigens angefertigter Scan aus dem Buch A Stroll Along Ryukyu Martial Arts History. Die Erlaubnis für die Verwendung des Scans wurde mir freundlicherweise vom Rechteinhaber Andreas Quast erteilt. Dieses Bild darf nicht ohne Erlaubnis verwendet werden.

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