Über den Rhythmus einer Kata

Vor kurzem hatte ich eine kurze Diskussion mit einer jungen Frau, die frisch mit Karate begonnen hatte. Sie trainierte in dem Dojo, in dem ich vor Jahren angefangen hatte (an der Uni) und obwohl ich da nicht mehr mitmache, nutze ich dennoch die Räumlichkeiten, weshalb ich immer wieder die dort trainierenden Leute sehe und mit ihnen in Gespräche verwickelt werde.

Diese Frau war Trägerin des 7. Kyu und sie wollte etwas zum Rhythmus der Kata Heian Nidan wissen. Ich erklärte ihr, dass sie so etwas wie einen vorgeschriebenen Rhythmus nur für die Prüfung bräuchte, da der Prüfer sich einer Verbands- und Prüfungsordnung unterwirft, doch ansonsten wäre so etwas wie ein Rhythmus vollkommen unsinnig und unnötig, solange man nicht weiß wofür er gut sein soll. Dies traf erstmal auf Widerspruch, da sie von Anfang an etwas ganz anderes beigebracht bekam und da kam mir die Idee etwas dazu zu schreiben, weil sie ganz bestimmt nicht alleine mit solchen Ideen erzogen wurde.

Funktion?

Zunächst zum Rhythmus. Ich las schon alle möglichen Meinungen zu diesem Thema. Die einen sagen, dass man Kata schnell „durchlaufen“ sollte, die anderen behaupten, dass Pausen und die damit kontrastierenden schnellen Abläufe ein wichtiger Bestandteil der Kata sind. Die einen legen Wert auf Ästhetik, die anderen mehr auf die Funktion, doch auch diese konnten oftmals keine wirkliche Funktion erklären. Diejenigen, von den ich bisher die besten Erklärungen zu Kata erhielt, sagten nie etwas zum Rhythmus, also gehe ich davon aus, dass er für die Funktion irrelevant ist.

Damit habe ich das Wesentliche auch schon gesagt. Wenn man weiß, was man macht, dann sucht man sich ein eigenes Tempo aus und da jeder die Techniken, mehr oder weniger realistisch, für sich selber interpretiert, anpasst und mal alleine und mal mit einem Partner übt, so unterscheidet sich auch das Tempo, bzw. der Rhythmus individuell von Mensch zu Mensch. Wenn der Vorstand eines Verbandes einen Rhythmus vorschreibt, dann schränkt er die Übenden nur stark ein.

Nehmen wir als Beispiel die Kata Heian Sandan: Mir wurde am Anfang beigebracht, dass die Sequenz nach dem ersten Nukite bis zum ersten Pflicht-Kiai (noch so eine unnötige Ergänzung) schnell auszuführen ist, wonach eine Pause folgt und erst dann dreht man sich langsam in die nächste Position mit den Fäusten an den Hüften. Noch nie hatte ich in Zusammenhang mit diesen Vorschriften eine sinnvolle Erklärung gehört. Wenn man aber nun selber nachdenkt, dann könnte der Tsuki vor dem Kiai als Durchdringen unter den gegnerischen Arm interpretiert werden, worauf man dann einen Hüftwurf ansetzt. Oft genug geübt, ist diese Technik ganz nützlich, jedoch wird sie keineswegs langsam ausgeführt – im Gegenteil: Verzögerung führt zum Versagen, da der Impuls genutzt werden sollte. Der Wurf muss schnell ausgeführt werden und insofern macht für mich eine derart dramatische Pause nach dem Kiai und eine langsame Drehung überhaupt keinen Sinn. Muss ich nun trotzdem den Rhythmus erhalten? Nein. Ich mache das einfach nicht und ich erzähle niemandem wie schnell, oder langsam sie die Kata zu machen haben.

Gruppenarbeit

In großen Gruppen kann das zu Chaos führen, wenn die Leute beim Ablauf einander stören, weil jeder einen eigenen Rhythmus hat und darin sieht man eine weitere Funktion dessen: Anpassung an die Gruppe, bzw. den Raum. Trainiert man aber alleine, oder ist genug Platz im Dojo da, so entfällt auch diese Notwendigkeit.

Synchron angepasste Team-Kata bei einer Vorführung. Ein Höhepunkt der Oberflächlichkeit.

Informationsweitergabe

Laut Elmar Schmeisser, sind langsame Techniken und Abfolgen in einer Kata ein Hinweis darauf, dass es sich um etwas kompliziertes handelt und der Schüler da ganz besonders aufpassen sollte. Dieser Gedanke deckt sich mit der Idee, dass Kata ein Werkzeug zur Weitergabe von Information ist. Wenn die Information aber bereits extrahiert ist, dann muss man sich nicht mehr an das vorgeschriebene Tempo halten.

Der Rhythmus ist also nicht nur für die „Ästhetik“ im Wettkampf und für Hinweise auf wichtige Stellen wichtig, sondern auch für die Anwendung, aber natürlich nur dann, wenn du eine genaue Vorstellung davon hast, wie die ausgeführten Techniken real angewendet aussehen und sich anfühlen. Wenn du also in der Solo-Kata (die, im Prinzip, nur eine Übung darstellt und mehr nicht) alles sehr langsam machst, in Wirklichkeit dein Gegner aber schneller reagieren würde, dann erfüllst du den Zweck dieser Übung nicht und musst deinen Rhythmus anpassen. Vergesse nicht, dass der Gegner nicht stehen bleibt. Greifst du ihm in den Genitalbereich, so ist die Wahrscheinlich groß, dass er reflexartig versucht dein Handgelenk zu greifen und die Hand weg zu ziehen. Laut der HAPV-Theorie (Habitual Acts of Physical Violence), müssen diese reflexartigen Reaktionen mit einbezogen werden und können tatsächlich in den Kata gefunden werden. Wenn dein Rhythmus also nicht mit dem natürlichen Timing einer solchen Situation übereinstimmt, dann musst du eine andere, mindestens genauso sinnvolle, Erklärung finden, oder dein Tempo anpassen.

Nochmal im Klartext: Der Rhythmus einer Kata, ohne einer obligatorischen und plausiblen Erklärung für das Tempo, ist irrelevant!

Zen & Meditation?

Hier gehe ich, wie in den vielen meiner Artikel, vom Selbstverteidigungsaspekt aus. Wer die Kata, weder für Trainingszwecke, noch für den Wettkampf, noch für SV macht, sondern sie als meditative Form betrachtet, darf das gerne machen. Ich habe das früher auch ab und zu probiert. Doch als jemand, der sich seit über 15 Jahren mit Meditation beschäftigt und viele Varianten ausprobiert hat, kann ich sagen, dass Kata eine eher ineffektive Form der Meditation ist, egal mit welcher Zielsetzung. Eine komplett langsam oder komplett schnell ausgeführte Kata, ganz ohne SV-Bezug oder trainingswissenschaftlichen Hintergrund, kann eine gute Übung sein, aber es gibt effektivere Formen der Meditation.

Der in keiner Form zum Karate gehörende Zen-Gedanke entfernt leichtgläubige Karateka vom Verständnis davon, was Kata wirklich ist (Zen schon mal gar nicht) und bringt unnötige und manchmal sogar schädliche Mystifizierung mit in das Training. Die Kampfkünste haben ursprünglich nichts mit Religionen und Zen zu tun. Dies ist eine spätere Zuschreibung, einerseits aus China des 17.-18. Jahrhunderts, wo die eher gewalttätige Übung in den Augen des Normalvolkes legitimiert werden musste, um für mehr Einverständnis und Trainingsmöglichkeiten zu sorgen, andererseits in Japan am Anfang und im Westen in der Mitte des 20. Jahrhunderts, mehr oder weniger aus den selben Gründen.

Wie also schon in allen meinen Artikeln, bitte ich dich darum genau und bewusst zu verstehen warum du etwas auf eine bestimmte Art und Weise machst, nicht nur in deiner Kampfkunst, sondern auch im restlichen Leben, weil alles zusammenhängt. Und wenn dir jemand eine Regel vorgibt, dann ist es völlig in Ordnung und wichtig nach dem Warum zu fragen. Tust du das nicht, wirst du zum blinden Follower, einem Fanatiker, der an der Oberfläche der Dinge hängen bleibt, und egal was du dann machst, früher oder später wird es jeglichen Sinn für dich verlieren. Dem entgegengesetzt wird jede Sache, mit ausreichend Verständnis und Achtsamkeit, dir ihre enorme Tiefe und Schönheit offenbaren.

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8 Kommentare, sei der nächste!

  1. Hey Philipp,
    zu diesem Artikel muss ich einfach einen Kommentar schreiben.
    Hatte so ein geniales Erlebnis hierzu. Ich bin vom Glauben abgefallen!
    Habe 2016 im Laufe meiner vielen Dojo Besuche etwas erstaunliches gesehen. Der Trainer war mit seinen Schülern gerade in der Wettkampfvorbereitung. Kata stand auf dem Plan. Am Ende des Training meinte er zu seinen Schülern, „schaut euch das mal an. Ich habe mir eine neuen Rhythmus für Kata XY ausgedacht. Findet ihr nicht auch, dass sie so viel spannender wirkt. Da werden die Kampfrichter sicher gut gucken.“
    Rhythmus ist immer so eine Geschichte. Ich mag Rhythmen. Sie verleihen einer Sache irgendwie ein gewisses Gesicht. Ich laufe meine Kata auch mit Rhythmus. Es macht einfach Spaß^^
    Dabei geht es mir gar nicht so um Anwendung oder jeglichen Sinn des Rhythmus. Kata ist für mich eh nur eine Konstruktion wie im Artikel von Andreas Quast beschrieben (hier die Übersetzung auf meinem Blog).

    http://dermodernebudoka.de/2017/01/01/das-kata-konzept-versuch-eines-neutralen-zugangs/

    Das Thema lässt für mich kaum in diesem Kommentar abarbeiten. Leider kann ich es nicht kurz fassen. Dafür steck ich noch zu wenig im Thema drin weil Rhythmus für mich keine zentrale Rolle in meiner Kata spielt.

    LG Basty

    1. Hey Basty,
      über die von dir beschriebene Situation kann ich nur mit einem Kopfschütteln antworten. Und was den Rhythmus angeht, so mache ich das auch. Meine Kata haben einen Rhythmus, der aber von Mal zu Mal variiert, so wie auch die Fußstellungen und andere Details, was aber bewusst wahrgenommen wird. Es spielt einfach keine zentrale Rolle in der Kata, das ist absolut richtig, und der Artikel gilt all jenen, die aus Unwissenheit dem dennoch eine zu wichtige Rolle zuschreiben.

  2. Man muss sich den Angreifer vorstellen können, sehen können. Danach richtet sich der Rhythmus und die Geschwindigkeit jeder Kata.

    Wenn man das nicht kann, läuft man einfach nur die Kata, der eine schnell der andere langsamer.

  3. Ich hatte dieses Thema vor kurzem im Training und meinte der Rythmus sei irrelevant, wenn man nicht weis warum… als Beispiel habe ich andere „Stilrichtungen“ angeführt die einen anderen Rythmus laufen… irgendwie war das nicht zu greifen für die Teilnehmer. Um die Teilnehmer das mal fühlen zu lassen, sollten sie eine Kata mal „umgekehrt“ zum gewohnten Rythmus laufen (sprich: langsames schnell, schnelles langsam).
    Das war sehr interessant, dass dies ein komplett anderes Gefühl für die Techniken gibt…
    Beispielhaft haben wir dann für verschiede Rythmen der gleichen Stelle unterschiedliche Anwendungen getestet… für einige ein Aha-Effekt!

    1. Und wenn man Kata über ihre kämpferischen Anwendungen hinaus betrachtet, also die Schulung der Körperkontrolle und Kräfteeinsatz etc. dann ist ein langsameres Tempo sogar noch praktischer, weil es die Achtsamkeit und Wahrnehmung verbessert. Ich mache inzwischen alle meine Kata (habe es auf ca. fünf Kata reduziert) langsam.

  4. Du hast Dir die Antworten ja schon selber gegeben, warum man unter Umständen doch mit Rhythmus „arbeitet“. Daher verstehe ich nicht, warum Du einem 7. Kyu sagst er / sie kann darauf verzichten. Die Freiheitsgrade im Karate ergeben sich von selber mit der Erfahrung und nicht nur dadurch, auch durch körperliche Fahigkeiten / Möglichkeiten. Ab wann kann man also auf eine äußere Anleitung verzichten? Bei Deinen Artikeln habe ich immer den Eindruck, daß Dein größtes Problem von Hierarchie geprägte Denkmuster oder Strukturen sind. Aber das ist halt ein Merkmal der ersten Karate Jahre – bis man mindestens bewusste Kompetenz aufgebaut hat, inhaltlich und körperlich.

    1. Hallo Andreas und danke für deinen Kommentar.
      Ich akzeptiere, dass die hierarchische Struktur ihre Daseinsberechtigung hat und nicht per se verteufelt werden sollte. Allerdings wird diese auch massiv missbraucht, in Religionen, in Schulen und auch in den Kampfkünsten. Abgesehen davon hat sie mir auf meinem Karate-Weg noch nie geholfen, sondern stand mir eher im Weg. Je früher man daraus ausbricht und Verantwortung über sein Lernen übernimmt, desto mehr, schneller und leichter lernt man. Das einzige Problem dann ist, dass es einigen Menschen/Lehrern nicht gefällt. Sie sehen in meiner Freiheit ihre eigene Angst vor der Befreiung und vor Verantwortung widergespiegelt und es passt ihnen oft nicht, dass ich mir nicht so leicht etwas sagen lasse ohne Fragen zu stellen. Wenn ich unterrichte, dann betone ich stets, dass ich nur meine Erfahrung vermittle und die vermittelten Inhalte nur meine Vorschläge sind. Ich sage meinen Schülern immer, sie sollten sich bitte selbständig weiter bilden und trainieren, so wie es ihnen am besten passt. Natürlich fangen wir mit den kampfspezifischen Bewegungsprinzipien an, aber mit welcher Schlag- oder Tritttechnik diese verinnerlicht werden sollten, überlasse ich den Schülern in ihrer Freizeit, so wie ich es als Autodidakt auch gelernt hatte. Eine hierarchische Struktur brauchen wir also nicht, sondern viel mehr Köpfchen und Mut zur Selbstverantwortung.

      1. Da möchte ich Dir in vielen Punkten zustimmen. Die „Meister“ die mich am meisten fasziniert haben, haben mich nie „trainiert“, das war immer meine Aufgabe – sie wollten nie den „Unterhalter“ spielen, sondern haben viel Verantwortung abgegeben und Eigenleistung gefordert. Aber sie haben immer kontrolliert, korrigiert, kritisiert, negativ und positiv motiviert, teilweise sogar körperlich und emotional manipuliert, gefordert, sogar überfordert. Das war nicht immer nett – aber verbunden mit dem Ziel, daß der Schüler seinen eigenen Weg findet, um sich dann irgendwann zu lösen. Das ist eine Gratwanderung und ich sehe auch, daß hier und da die Abhängigkeit zum „Trainer“ ausgenutzt wird. Nur – nicht jeder Mensch mag seine Komfortzone verlassen, viele sind mit der geführten Situation durch eine charismatische Person sehr im Einklang. So das Prinzip „Schaf“, den Schutz der Herde suchen und dafür Schäfer und Hund akzeptieren. Auch das ist ja eine Art von Idealismus, den man akzeptieren sollte. Nicht jeder mag die „Freiheit“ im Karate leben, sondern lieber jemand bewundern. Was ich persönlich überhaupt nicht verstehen kann, habe ja einen eigenen Kopf. Und trotzdem ich habe genug Karateka gesehen, die mit der freien Auslegung in der Art Probleme haben, daß sie andere im Training verletzen. Und hier sehe ich schon, daß es jemand geben muss, der Disziplin einfordert / per Position einfordern kann. Das erzeugt dann eben Hierarchie. Die von Dir beschrieben Sorge, bestimmter Personen, Einfluss zu verlieren, habe ich ebenfalls zur Genüge kennen gelernt und bemerke, daß die Motivation dann nicht im Karate liegt, sondern in anderen Gründen – Geld, Eitelkeit und alles, was man sich so vorstellen kann.

        Viele Grüße

        Andreas

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